Neviges. Eine unfassbare Tat: Ein oder mehrere unbekannte Täter haben ein neunjähriges Mädchen mit lebensgefährlichen Verletzungen in einem Kanalschacht hinter der Turnhalle Tönisheider Straße 51 eingesperrt. Die Polizei geht von einem schweren Verbrechen aus.
Neviges. „Dass in unserem beschaulichen Neviges so etwas möglich ist – unfassbar!” Christa Schreven, Leiterin der katholischen Grundschule, steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Ein neunjähriges Mädchen, das seit Montagabend vermisst wurde, ist Dienstagfrüh mit lebensgefährlichen Verletzungen bewusstlos aus einem Kanalschacht hinter der Sporthalle Tönisheider Straße 51 gezogen worden. Über die Hintergründe herrscht Unklarheit.
Fest steht Folgendes: Die Neunjährige hielt sich am Montag bis 18 Uhr direkt neben der Sporthalle im „Treff 51” bei einem freien Spiele-nachmittag auf. „Sie war wie immer gut gelaunt”, berichtet Leiter Thomas Prien. Weil sie besonders fleißig beim Aufräumen mitgeholfen habe, sei sie am Ende sogar mit einem Eis belohnt worden. Dann habe sie den „Treff 51” schnell verlassen – „und sie hat nicht mehr Tschüss gesagt”, merkt Prien an. „Das hat mich etwas gewundert.” Ob sie allein oder in Begleitung unterwegs war, ist nicht gewiss. Ihr Elternhaus ist nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt.
Überall gesucht
Etwa 15 Minuter später sei die ältere Schwester im „Treff 51” erschienen, die auf der Suche nach dem Mädchen war. „Meine Kollegen und ich haben überall gesucht”, sagt Thomas Prien. Gegen 20.50 Uhr hat der Vater des Mädchens die Polizei alarmiert. Daraufhin startete die Polizei eine groß angelegte Suchaktion, an der auch ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera beteiligt war. Erst der Einsatz einer Hundestaffel, die nachts das gesamte Gelände bis hin zur Alten Burg durchkämmten, brachte die Beamten auf die richtige Spur.
Um 1.19 Uhr zeigte Suchhund Christo besonderes Interesse an einem Kanalschacht hinter der Sporthalle, in dem das schwerst verletzte Mädchen unter einem runden Gullydeckel gefunden wurde – lebendig begraben.
Außer Lebensgefahr
„Die Suche mit den Hunden hat gerade mal eine Viertelstunde gedauert”, berichtet Peter Haase, Leiter der Rettungshundestaffel Hattingen. Haase war auch derjenige, der das bewusstlose Mädchen aus dem Kanalschacht barg. „Ein Kollege vom DRK hat den Gullydeckel abgenommen”, so Haase, dann sei er selbst in den Kanal geklettert. „Fünf Minuten” schätzt der erfahrene Helfer, der seit 30 Jahren für die Berufsfeuerwehr in Wuppertal arbeitet, habe die Bergung der Neunjährigen in Anspruch genommen. Aber: „Das kommt einem vor wie eine Stunde”, schildert der noch merklich erschütterte Hundestaffelleiter seinen Einsatz.
Das Mädchen wurde direkt in die Uni-Klinik Essen gebracht, am Dienstagvormittag schwebte es nicht mehr in Lebensgefahr.
Einzelheiten sind bislang nicht bekannt. Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt, Pressesprecher für Kapitalsachen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Wuppertal: Die Ermittlungen hätten deutliche Zeichen „von stumpfer, externer Gewalt” ergeben, so dass sich „sehr schnell der Verdacht eines Tötungsversuchs erhärtet” habe. Dieser werde auch durch entsprechende Ergebnisse von medizinischen Untersuchungen gestützt. Das Mädchen sei noch nicht vernehmungsfähig; es stehe unter medizinischer Beobachtung und Kontrolle. Auch die Frage eines sexuellen Missbrauchs sei noch offen.
"Wir müssen viel besser aufpassen"
Auf dem Kirchplatz im Nevigeser Stadtkern ist es gestern Mittag ruhig wie immer. Hier wohnt das Opfer mit den Eltern und zwei Geschwistern. Kein Namensschild an der Tür des Fachwerkhauses, keine Klingel. „Es muss geklopft werden”, hat eine Nachbarin geraten. Kripo-Beamter Frank Bons von der Kreispolizei Mettmann öffnet und bittet um Verständnis: „Die Familie ist nicht in der Lage, auf Fragen zu antworten. Wir kümmern uns um sie”. Die Mutter befinde sich bei der Verletzten im Krankenhaus.
Kurze Zeit später verlassen der Vater, Bruder und Schwester in Polizeibegleitung das Haus, besteigen ein Zivilfahrzeug und brausen davon. Die Nachbarn, die im Rund um die Stadtkirche wohnen, geben an, die Familie nicht näher zu kennen. „Ich habe die Kinder öfter vor dem Haus spielen sehen”, sagt Ute Kranz aus dem Nebenhaus. Aber man kenne sich nicht – auch der Familienname sei völlig unbekannt.
„Wer sich seinem Wohnumfeld nach dem Einzug nicht vorstellt, bleibt wohl ein Unbekannter”, meint Hans-Hermann Köller. Eine andere Nachbarin ist bestürzt: „Dass diese Leute so einen Schicksalsschlag erleiden müssen, ist einfach furchtbar.”
Ein tiefer Schrecken sitzt den Nevigesern in den Gliedern. „Wir müssen auf unsere Kinder noch viel besser als ohnehin schon aufpassen”, sagt Taia Keriazake mit bedrückter Stimme. Sie ist Mutter von vier Töchtern und holt ihre sechsjährige Anna gerade von der Schule ab. Diesen Tag wird Neviges lange nicht vergessen.