Datteln. . In Kinderschutzambulanzen im Ruhrgebiet wächst die Zahl kleiner Patienten mit Brüchen und blauen Flecken. Ärzte appellieren: Missstände ansprechen.

Sie war eigentlich ein „Anfängerbaby“, ein niedliches Mädchen von vier Monaten, das lachte, futterte, durchschlief. Eines, dem niemand böse sein konnte. Oder doch: Jedenfalls war da unter einer tagealten Beule dieser furchtbare Schädelbruch und nach der Operation eine riesige Narbe. „Das hast du nicht verdient“, hat Tanja Brüning auch da wieder gedacht; sie muss das so oft denken: Die Ärztin der Kinderschutzambulanz an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln erwartet bis zum Jahresende traurige 1000. Tausend kleine Kinder, verwahrlost, misshandelt, missbraucht.

Kinderärztin Dr. Tanja Brüning
Kinderärztin Dr. Tanja Brüning © Funke Foto Services

Sie sind schon wieder mehr geworden, mehr als im vergangenen Jahr und in dem davor. Mit 150 kleinen Patienten fingen Brüning und die Kinderschutzambulanz 2011 an, 750 waren es 2015 und bis zur vergangenen Woche schon wieder so viele. Kinder, die vom Jugendamt gebracht werden oder von den eigenen Eltern, die gern verschweigen, was die Ärzte doch entdecken: schlecht verheilte Knochenbrüche, blaue Flecken, die nicht erklärbar sind, Striemen, Würgemale, Verletzungen im Genitalbereich. Ein Drittel, sagt Tanja Brüning, sei sexuell missbraucht worden, im Durchschnitt seien die Kinder sechs Jahre alt.

Gelsenkirchen zählte zehn Patienten in einer Woche

Auch bei ihrer Kollegin Christiane Schmidt-Blecher an der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen sind die Zahlen gestiegen. Die 70 Fälle aus 2015 hat sie schon jetzt erreicht, dabei zählt sie nur ambulante Patienten und nur Verletzungen, Verwahrlosungen werden nicht erfasst. Allein vergangene Woche kamen zehn Kinder zu ihr: mehrere Fälle häuslicher Gewalt durch die Mutter, ein missbrauchter Junge, ein Baby, bei dem das Röntgenbild einen alten Beinbruch offenbarte.

Nun ist es wohl nicht so, dass Eltern brutaler werden, allein: Es wächst das Wissen um Anlaufstellen und Hilfsangebote, es wächst auch die Aufmerksamkeit, man schaut genauer hin. „Sicher ist“, sagt Tanja Brüning in Datteln mit Blick auf die 130 Kinder, die in Deutschland 2015 gewaltsam starben, „kein Kind ist auf einmal tot. Es gibt immer einen Punkt, an dem es angefangen hat.“ Die Gesellschaft trage Verantwortung, Missstände anzusprechen, überforderten Eltern Unterstützung anzubieten. Das früheren Generationen anerzogene „Das geht uns nichts an“ stimme nicht mehr.

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Auch nicht die verbreitete Angst vor dem Jugendamt. „Viele glauben“, so Brüning, „die kommen sofort und nehmen die Kinder weg.“ Doch „das passiert nicht: Das Elternrecht hängt sehr hoch“, Kinder würden nur aus der Familie genommen, wenn sie wirklich bedroht seien. Sie selbst muss oft abwägen: „Kann ich dieses Kind nach Hause schicken?“ Wenn nicht, informiert sie das Jugendamt, manchmal auch die Kriminalpolizei.

„Weiß ich nicht“, hört sie oft

Kinderärztin ist sie und -gynäkologin, aber auch Detektivin wider Willen: wenn die Geschichte der Eltern so gar nicht zu den Verletzungen des Kindes passt. „Weiß ich nicht“, hört sie oft, wenn sie nach dem angeblichen Unfall fragt, „war ich nicht“ oder „die große Schwester war’s“, der geschiedene Mann oder der geheimnisvolle Unbekannte. „Sie können mir alle sagen, was sie meinen, wie es gewesen ist.“ Brüning aber kennt den Unterschied: zwischen Eltern, die von nichts wissen wollen, und denen, die auf ihr verletztes Kind „normal“ reagieren – aufgeregt, bestürzt, besorgt. Was die Ärztin bei gründlicher Untersuchung zuweilen findet, sind „Nebendiagnosen“. Alte Brüche, Hämatome an unmöglichen Stellen, ein abgemagertes Kind, das in der Klinik rasch zunimmt. „Keiner hat nach einem banalen Sturz einen Trümmerbruch.“

Manchmal zeigt ein kleiner Patient selbst auf den Schuldigen („Papa war’s!“), oder Brüning findet ihn in langen Gesprächen heraus. „Es gibt auch Geheimnisse, die man sagen darf“, legt sie den Kindern nahe, erklärt ihnen, dass das Gesetz Gewalt verbietet. „Dann“, antwortete ein Fünfjähriger, dem der Freund der Mutter einen Milchzahn ausgeschlagen hatte, „hat der das nicht gelesen.“

Aushalten, was die Kinder erzählen wollen

Oft versuchten Kinder, ihre Bezugspersonen zu schützen, um sie nicht zu verlieren. An einen Achtjährigen erinnert sich Brüning, der mit seinem Taschengeld versuchte zu ersetzen, was der Vater im Zorn zerschlug. „Gewalt“, sagt Tanja Brüning, „ist auch eine perverse Form von Aufmerksamkeit.“

Sie ist schonungsloser geworden, mit sich selbst, aber auch in den Arztberichten. „Wenn Kinder sowas erleben, dann müssen wir uns dem stellen. Sie wollen es jemandem erzählen, der es aushält.“ Das, wovor Erwachsene entsetzt die Ohren verschließen wollen, müssten die Kinder ertragen, jeden Tag. 1000 allein im Raum Recklinghausen. Mindestens. Denn auch das bleibt wahr: „Man kann nur die Kinder zählen“, sagt Brüning, „die man vorgestellt bekommt.“

Kinderschutzambulanzen leben von Spenden – so können Sie helfen 

Fast 4000 Kinder wurden laut Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr in Deutschland körperlich misshandelt, etwa 14 000 Opfer sexueller Gewalt. Das sind zwar weniger als in den Vorjahren, aber auch nur die, die in der Statistik auftauchen. Die Dunkelziffer, wissen Experten, ist hoch.

Allein in NRW mussten die Jugendämter in 32 000 Fällen wegen des Verdachts auf „Kindeswohlgefährdung“ tätig werden. 12 000 bestätigten sich – das sind fast 33 Kinder am Tag, die von Verwahrlosung, Misshandlung oder Missbrauch betroffen waren. Mehr als die Hälfte von ihnen sind nicht einmal zehn Jahre alt.

Die Kinderschutzambulanzen sind niedrigschwellige Angebote für Familien, betroffene Kinder und auch das Jugendamt, das hier Verdachtsfälle untersuchen lassen kann. In Gelsenkirchen seit zehn Jahren, in Datteln seit fünf, auch in Oberhausen gibt es eine Einrichtung, in Bottrop neuerdings.

30 Euro für ein verletztes Kind

Gesichert ist diese Arbeit nicht: Der Kinderschutz ist in Deutschland keine Regelleistung der Krankenkassen. In Datteln berichtet Oberärztin Tanja Brüning von Notfallpauschalen von 13,25 Euro. Auch Kollegin Christiane Schmidt-Blecher in Gelsenkirchen rechnet für ausführliche Untersuchungen des kindlichen Körpers, Analyse der Familienverhältnisse, Fotodokumentation, Arztberichte und die nötigen Kontakte zu Jugendamt, Polizei und Gerichtsmedizin mit lediglich 30 Euro.

Kinderärzte fordern deshalb dringend eine bessere Finanzierung des Kinderschutzes, der bislang vor allem durch Spenden finanziert wird. Der Sprecher ihres Berufsverbandes, Hermann Josef Kahl, nannte Gewalt gegen Kinder in Deutschland erst kürzlich einen „ungelösten Skandal“.

Spendenkonto der Vestischen Kinder- und Jugendklinik:

  • Volksbank Waltrop
  • IBAN DE09 4266 1717 0100 2681 00
  • BIC GENODEM1WLW
  • Verwendungszweck: Kinderschutzambulanz
  • Für eine Spendenquittung bitte die vollständige Adresse angeben. Es kann auch eine monatliche Zuwendung als „Kinderschutz-Patenschaft“ vereinbart werden.