Herne. . Die Zahl des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung hat sich in Herne mehr als verdoppelt. Die WAZ sprach mit Stephanie Jordan über die Hintergründe.
Die Zahl des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung in Herne hat sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt – von 252 im Jahr 2013 auf 530 im vergangenen Jahr. Das teilte das statistische Landesamt jetzt mit. Die WAZ sprach mit Stephanie Jordan (36), Abteilungsleiterin im Fachbereich Kinder, Jugend und Familie der Stadtverwaltung über die Gründe dieser Entwicklung.
Die Statistik liest sich dramatisch. Woran liegt es, dass die Zahl des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung so in die Höhe geschnellt ist?
Jordan: Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Es hat sich in diesem Bereich eine höhere Sensibilität entwickelt, sowohl in der Bevölkerung als auch im Netzwerk, sprich alle Institutionen, die mit Familien zu tun haben. Also Ärzte und Kliniken beispielsweise. Außerdem wird die Netzwerkarbeit ausgeweitet und immer verbindlicher. Spannend ist aber, dass die Zahl der festgestellten Kindeswohlgefährdungen ungefähr auf einem Niveau geblieben ist.
De facto gibt es also keine Erhöhung der Zahl der Kindesgefährdung?
Man hat einen wachsenden Anteil von Fällen, wo man am Ende doch keine Kindeswohlgefährdung festgestellt hat. Dann entschuldigt man sich natürlich und erklärt dabei, wie wichtig es ist, dass wir aus der Bevölkerung Hinweise bekommen, denen wir nachgehen können. Andererseits hat sich ja auch bei einem großen Teil der Fälle herausgestellt, dass sehr wohl Hilfebedarf besteht. Dann werden Familien beraten, was es für Möglichkeiten es gibt.
Wer kommt denn zu Ihnen, sind das Nachbarn oder Lehrer?
Viele Meldungen gehen telefonisch ein, darunter sind auch Nachbarn, die sich über Kindergeschrei Sorgen machen. Aber auch Schulen oder Kitas, mit denen haben wir unter anderen Kooperationsvereinbarungen.
Wie gehen sie bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung konkret vor?
Der soziale Dienst bezieht Kinder und Eltern mit in seine Arbeit ein, solange der Schutz der Kinder nicht massiv gefährdet ist. Dann werden Vereinbarungen getroffen, wie man die Gefährdung abwenden kann und entsprechende Hilfeleistungen installiert. Wenn die Gefährdung abgewendet ist, zieht sich der soziale Dienst wieder zurück.
Wie sieht denn die Unterstützung aus, die der soziale Dienst anbietet?
Da gibt es die sogenannten Familienhilfen. Das können ambulante Helfer sein, aber auch aufsuchende Familientherapien. Es gibt natürlich auch Unterbringungen in Heimen oder Pflegefamilien. Es wird versucht, Eltern dahingehend zu aktivieren, dass sie ihrer Verantwortung wieder gerecht werden können. Und dass sie die Kinder zurück bekommen, wenn sie ihnen entzogen wurden. Unser oberstes Ziel ist es, dass Kinder in ihren Familien aufwachsen können.
Gibt es auch Menschen, die anderen schaden wollen, wenn sie bei Ihnen anrufen. Etwa verärgerte Nachbarn?
Es kommt schon vor, dass unser Beratungsdienst instrumentalisiert wird. Wir sind ja verpflichtet, jedem Hinweis aus der Bevölkerung nachzugehen. Wenn wir dann feststellen, dass überhaupt keine Gefährdung vorliegt und alles im grünen Bereich ist, dann entschuldigen wir uns natürlich. Meistens liefern uns die betroffenen Familien in solchen Fällen aber auch Erklärungsansätze und haben eine Hypothese, wer sich denn da gemeldet haben könnte.
Also Nachbarn, die sich einfach nur von lauten Kindern genervt fühlen.
Genau, so etwas gibt es auch. Die streiten sich beispielsweise auch wegen eines Hundes. Es kann aber auch sein, dass es sich um ein Schreikind handelt, das die ganze Nacht schreit und wo sich die Eltern auch schon Hilfe geholt haben. Die Nachbarn bekommen aber nur mit, dass das Kind ununterbrochen schreit und fragen sich, ob es adäquat versorgt wird. Aber auch in solchen Fällen können wir helfen, zum Beispiel Entlastungsmöglichkeiten für die Eltern schaffen.
Können wir, was die aktuelle Statistik angeht, Entwarnung geben?
Einerseits. Andererseits sollte die Bevölkerung weiterhin wachsam sein. Kinder sind ja auch immer angebunden an Institutionen, entsprechend aufmerksam sollten Lehrer, Schulsozialarbeiter oder Erzieherinnen in den Kitas sein. Bei Fragen können sie sich an den Sozialen Dienst wenden. Medizinisches Fachpersonal, also Ärzte und Psychologen, können die städtische Schul- und Erziehungsberatungsstelle kontaktieren.