Essen. . Eine Essener Bürgerinitiative recherchierte die Geschichte ihres Viertels und stieß auf zwei Judenhäuser. In vielen Städten unerforschtes Terrain.
Sie floh in einem unbewachten Augenblick. Als die Gestapo-Männer in den Keller hinabstiegen, um sich den in Kisten verpackten Besitz ihrer Familie anzusehen. Es war der 31. August 1943 gegen 10 Uhr morgens. Marianne Strauß tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Vater, der steckte ihr noch ein paar Hundertmarkscheine zu, und sie huschte durch die Haustür. Die damals zwanzigjährige Essener Jüdin gehört zu den wenigen Menschen, denen es gelang, aus einem Judenhaus zu flüchten.
Judenhäuser, das waren kleine Gettos in unseren Städten, Zwischenstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Sie gehörten ursprünglich jüdischen Familien und wurden nach der Pogromnacht 1938 genutzt, um dort andere jüdische Bürger zwangsweise einzuquartieren. Bis heute weiß man nur wenig über sie, in Essen wie bundesweit. Eine Essener Bürgerinitiative, die über die Vergangenheit ihres Stadtviertels recherchierte, stieß auf gleich zwei dieser Häuser. Nun werden dort 25 Stolpersteine verlegt, Erinnerungs-Tafeln an die Deportierten. Doch eigentlich müssten es 50 Steine mehr sein, denn so viele Juden waren dort zusätzlich eingewiesen worden.
Schwarzer Stern an der Tür
165 Judenhäuser existierten allein in Essen. Für viele Menschen waren sie die letzte Station vor der Reise in den Tod. „Sie lebten nebenan, waren ein offensichtlicher Bestandteil der Nachbarschaft. Schon allein, weil ein schwarzer Judenstern an der Tür hing“, sagt Günter Hinken, Historiker und Mitglied jener Essener Initiative, die sich vor zwei Jahren für die Umbenennung ihrer Straßen stark gemacht hatte, die 1937 nach den Generälen von Seeckt und von Einem benannt worden waren. Bei ihrem Ausflug in die Geschichte entdeckten die Essener jene Häuser mit der belasteten Vergangenheit. Seitdem forschen sie in Archiven und Gestapo-Akten, um den Menschen, die in den Häusern Nr. 32 und Nr. 47 zwangsweise wohnten, ein Gesicht zu geben.
Paul Cohen etwa. Der Unternehmer lebte in der Nummer 47 mit Ehefrau Berta und Sohn Heinz. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 lösen die Nazis seine Zement- und Baumaschinenfirma auf und bringen in ihrem dreistöckigem Haus zusätzlich 23 Menschen unter. Ehepaare, Familien, Alleinstehende. Man lebt auf engstem Raum, gezwungen, sich mit Fremden zu arrangieren. Unter ihnen auch der Kantor der jüdischen Gemeinde Essens, Max Levisohn, und dessen Frau Paula.
Die Cohens wie die Levisohns sollen das NS-Regime nicht überleben. Sie sterben wie viele Essener im Vernichtungslager im polnischen Izbica und im französischen Internierungslager Gurs. Einzig ihre Söhne Heinz Levisohn und Heinz Cohen, die auf dem nahen Gymnasium ihr Abitur gemacht haben, retten sich – bevor die Nazis die Deportationen beginnen – nach Palästina und in die USA.
Ein Zimmer für eine Familie
„Die Situation in diesen Judenhäusern war sehr eng und konfliktreich. Oft gab es für eine Familie nur ein Zimmer, ab 20 Uhr galt eine Ausgangssperre, und jederzeit war damit zu rechnen, dass die Gestapo vor der Tür stand“, erklärt die Freiburger Soziologin Elisabeth Pönisch. Das Thema Judenhäuser sei bislang kaum erforscht. Lediglich für Leipzig, Hannover und Bochum gebe es Einzelstudien.
Eine, deren Eltern auch in dem vom Bürgertum geprägten Essener Süd-Viertel wohnten, Susanne Caspary, wird Ende April erstmals in ihrem Leben nach Deutschland, nach Essen reisen. Die Mittsiebzigerin wurde im brasilianischen São Paulo geboren, wohin ihre Eltern Grete Oppenheimer und Max Callmann 1938 geflüchtet waren. Grete Oppenheimer war die Tochter eines Fabrikanten, spielte Klavier wie Violine und hatte 1933 die Aufnahmeprüfung an der Folkwang-Schule bestanden. Studieren durfte sie indes nicht mehr, aus „rassischen Gründen“.
Die Essener Bürgerinitiative nahm nun nach aufwendigen Recherchen Kontakt zu Susanne Caspary auf. „Die Tochter möchte den Schleier lüften über all das, worüber die Mutter geschwiegen hat. Susanne Caspary tritt die Reise nach Essen an, weil ihre Mutter immer davon geträumt, es aber nie geschafft hat“, sagt Günter Hinken.
Die Nachbarn erlebten alles mit
Judenhäuser wie jene in Essen gab es in bald jeder Stadt des Ruhrgebiets, des Landes. „Die Nachbarn rechts und links, da kann man sicher sein, erlebten das alles mit. Man sah ja auch, wenn die jüdischen Bewohner am Ende in Gruppen zu Fuß zum Bahnhof gebracht wurden, um abtransportiert zu werden“, sagt der Historiker Hubert Schneider, der sich intensiv mit den zehn Bochumer Judenhäusern befasst hat.
Und auch der Essener Historiker Günter Hinken macht sich stark für ein Forschungsprojekt über die Judenhäuser seiner Stadt, über das Leben der dort Eingewiesenen. Wie notierte der Dresdener Viktor Klemperer in seinen Tagebüchern: „Im Aufwachen: Werden ,sie’ heute kommen? Dann Frühstück: alles aus dem Versteck holen ... Dann das Klingeln... Ist es die Briefträgerin, oder sind ,sie’ es?“