Gelsenkirchen. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten. 30.000 Bürger sollen es in Gelsenkirchen sein. Sie sind limitiert im Wortschatz und können Texte nicht erfassen. Die Volkshochschule will mit dem Projekt „Offen Alpha GE“ gegensteuern und Partner für ein Netzwerk gewinnen.
Sie können schlecht lesen und schreiben, mogeln sich am Arbeitsplatz durch und handeln häufig nach der Devise: Nur nicht auffallen. Etwa 7,5 Millionen Bürger oder 14 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung in unserem Land gelten als funktionale Analphabeten, zwei Millionen als totale Analphabeten, die weder lesen noch schreiben können. In Gelsenkirchen sollen es 30.000 Bürger sein, denen die Schriftsprache erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Mit dem Projekt „Offen Alpha GE“ will die Volkshochschule gemeinsam mit Kooperationspartnern ein Netzwerk schaffen und den Betroffenen unterschiedliche Zugänge zu Bildungsangeboten ermöglichen.
Sie sind limitiert im Wortschatz, können Texte oft nicht erfassen. Die Arbeitslosigkeit unter den Menschen, die die Grundtugenden der Bildung nicht beherrschen, ist mit 43 Prozent extrem hoch. Doch gehen 57 Prozent trotz immenser Defizite ihrer Arbeit nach. „Wir wollen die Bildungslücken schließen“, sagt VHS-Projektleiterin Ghada Muhsin.
Stärkere Sensibilisierung gefordert
Nicht nur das Kursangebot will die VHS erweitern, auch die qualitativen Strukturen sollen verändert werden. Angestrebt ist eine Zusammenarbeit mit Verbänden, städtischen Stellen, dem Jobcenter und Weiterbildungseinrichtungen. Sehr gute Arbeit leisteten bereits die Familienzentren mit der Sprachförderung“, weiß die Diplom-Pädagogin. Doch mit Lese-, Schreibkursen und der Förderung der Rechenfähigkeit werde nur ein kleiner Teil der Zielgruppe erreicht. In dem Projekt „Offen Alpha GE“ steht die Frühförderung im Vordergrund. Ghada Muhsin: „Wir brauchen einen sozialpädagogischen Ansatz, müssen auf die Menschen zugehen.“ Als Schlüsselpersonen gelten die Akteure, die heute täglich mit der Zielgruppe zu tun haben.
Ulrike Kilp, Direktorin des Landesverbandes der VHS NRW, sieht das Alphanetz, das der Landesverband im Februar geknüpft hat, als wichtige Voraussetzung, mehr Partner zu erreichen. An 18 Standorten seien die Beteiligten wie Jobcenter, Schulen, Betriebe, Verbände miteinander vernetzt. Kilp fordert eine stärkere Sensibilisierung in den Organisationen, um mehr Zielgruppen zu erreichen und diese auch zu gewinnen.
VHS ist idealer Bildungspartner
Bildungsdezernent Dr. Manfred Beck, der das Projekt als Chance für Gelsenkirchen sieht, bittet um Unterstützung der Bildungspartner: „Wir müssen dem gesellschaftlichen Phänomen des funktionalen Analphabetismus besser begegnen.“ Die Einrichtung von Familienzentren an Grundschulen und die Schaffung von Bildungsverbünden in Schalke sieht Beck als Wegbereiter für das ehrgeizige Projekt.
Und dass die VHS der ideale Bildungspartner ist, machte Direktor Michael Salisch in seiner Erfolgsbilanz deutlich. Im letzten Jahr schafften 200 Teilnehmer ihren Hauptschulabschluss über die VHS. Darunter in erster Linie arbeitslose Jugendliche und Mütter ohne Berufsausbildung.
„Für viele Bewerber wird die Vermittlung zur Lotterie“
Wie groß der Bildungs-Nachholbedarf ist, machte Reiner Lipka, Geschäftsführer des Integrationscenters für Arbeit (IAG) an ernüchternden Zahlen deutlich. 32.000 Menschen aus der Stadt werden vom Jobcenter betreut. Von staatlicher Hilfe müssen 23.000 Familien mit 13.000 Kindern leben. Schon in jungen Jahren werden Bürger der Stadt im berufsfähigen Alter abgehängt. Von den unter 25-Jährigen hat jeder Fünfte keinen Schulabschluss, 89 Prozent schließen die berufliche Ausbildung ohne Abschluss ab. Von 76.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gehen 9000 Arbeitnehmer einer angelernten Tätigkeit nach.
Doch der Bedarf geht durch die technische Entwicklung immer weiter zurück, während die Bewerber Schlange stehen. Lipka: „70 Prozent der 32.000 Menschen, die wir betreuen, kommen nur für Anlerntätigkeiten in Frage, doch die zur Verfügung stehenden Plätze sind alle besetzt. Für viele Bewerber wird die Vermittlung zur Lotterie.“ Für Lipka ein sozialpolitisch unhaltbarer Zustand. Qualifizierung sei auch für einfache Jobs erforderlich. „Eine Anlernkraft“, so Lipka, „muss mehr als lesen und schreiben können.“ Um benachteiligte Gruppen zu gewinnen, müsse Vertrauen geschaffen werden. Denn bei vielen Arbeitslosen reiht sich eine Misserfolgskette an die andere. Lipka: „Wir müssen die Selbsterkenntnis bei den betroffenen fördern. Sanktionen nutzen nichts.“
Büro als Lernort
Wie erreicht man die Menschen, die trotz mangelhafter Kenntnisse der Schriftsprache ihrem Job nachgehen, aber dringend einer Grund- bildung bedürften. Gerhard Reutter, Lehrbeauftragter im Büro für berufliche Bildungsplanung (BBB) in Dortmund, macht mit dem Projekt „Sesam“ den Arbeitsbereich zum Lernort. Bei der arbeitsplatzorientierten Grundbildung für gering qualifizierte Beschäftigte arbeitet das Büro mit Bildungsberatern und Transfergesellschaften zusammen. Pädagogen gehen mit in die Betriebe. Ziel ist es, die Verantwortlichen in Betrieben für das Thema Grundbildung zu sensibilisieren und Lehrende weiterzubilden.
Nicht überall stoßen die Initiatoren des BBB, Preisträger für Innovation in der Erwachsenenbildung, auf die gewünschte Resonanz. Im Handwerk und im Pflegebereich läuft das Projekt sehr schleppend. „Man braucht einen langen Atem“, sagt Diplompädagoge Reutter, da Betriebe kaum Bedarf an Grundbildung meldeten. Geschäftsleitungen kennen den Bedarf ihrer Mitarbeiter nicht, im Gegensatz zu den unmittelbaren Vorgesetzten und den Betriebsräten. Eine wichtige Erkenntnis in dem Projekt hat Reutter schnell gewonnen. Der Begriff Alphabetisierung ist in Betrieben eher ein Türschließer. In der Altenpflege wählte das Büro daher „Business-Deutsch“ als Türöffner. Ein Sprachmodell, das sich sogar als Aufwertung entpuppte