Die Sonne kreist um die Erde, sagen einige wenige. Mit „Pluralismus“ hat das nichts zu tun. Qualitätsjournalismus muss einordnen.

Zu viel Wissen kann sehr störend sein. Die Tafel Schokolade gerade hat zwar gut geschmeckt, war aber die ungesunde Alternative zum Apfel, der weiter unangetastet im Obstkorb liegt. Sofort meldet sich das schlechte Gewissen. Obwohl? Gab es da nicht diese Studien zum ungesunden Fruchtzucker? War nicht irgendwo zu lesen, dass dieser Fruchtzucker sogar schädlicher ist als Industriezucker?

Es ist wohl ganz menschlich, solchen Informationen mehr Beachtung und sogar Vertrauen entgegenzubringen, wenn sie einem sympathisch vorkommen. Botschaften dagegen, denen man nicht glaubt oder glauben will, werden lieber dreimal hinterfragt.

Falsche Ausgewogenheit vernebelt

In der Corona-Pandemie wurde das besonders deutlich. Ist das Virus wirklich so gefährlich, dass die Geschäfte und Cafés schließen, dass die Kinder zu Hause bleiben, dass wir alle regelrecht eingesperrt werden müssen? Jetzt, zum Ende der Pandemie, wird die Frage wieder heiß diskutiert, ob auch die Medien eine Mitschuld tragen an den Fehlern, die gemacht wurden, weil sie nicht ausgewogen berichtet hätten, weil nicht alle Seiten gleichermaßen zu Wort gekommen wären.

Gab es das, eine „Karl-Lauterbachisierung“ journalistischer Berichterstattung? In ihrem viel beachteten Buch „Die vierte Gewalt“ stellen Richard David Precht und Harald Welzer die These auf, es gebe eine „Selbstangleichung“ im Journalismus. Das klingt nicht nur zufällig fast wie „Selbstgleichschaltung“ und stellt somit, gewollt oder ungewollt, Bezüge zur Nazi-Zeit her.

Als ein Beispiel neben der Pandemie benennen die Autoren das Thema Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Medien würden ausschließlich die ukrainische Perspektive einnehmen und die Regierung zur Lieferung schwerer Waffen drängen, behaupten sie. Das Buch verkauft sich ziemlich gut. Waffenlieferungen als Rutschbahn in den Atomkrieg gegen Russland? Da fühlt sich mancher bestätigt in seinen Ängsten.

Journalisten müssen nicht alle Meinungen gleichberechtigt abbilden

Bis heute haben Precht und Welzer ihre Behauptung von der fehlenden Ausgewogenheit in den Medien nicht empirisch belegt. Und das ist nicht der einzige Fehler, den sie machen. Tatsächlich ist es gar nicht die Aufgabe von Journalisten, alle Positionen zu einem Thema, und seien einige davon auch noch so absurd, gleichberechtigt nebeneinander aufzuführen.

Zu den vornehmsten Aufgaben eines unabhängigen Journalismus gehört doch immer auch dies: einzuordnen. Je unübersichtlicher eine Lage ist, je mehr Desinformationen kursieren, umso wichtiger wird diese Einordnung, die nach bewährten journalistischen Regeln erfolgt. Die wichtigste Regel dabei lautet, wahrheitsgetreu zu berichten, und zwar losgelöst von der Frage, ob Informationen dem Publikum gefallen oder missfallen.

Meinungspluralismus ist ein hohes Gut. Unterschiedliche, widerstreitende Perspektiven fördern die Meinungsbildung. Wahrheitspluralismus dagegen stiftet Verwirrung, gefährdet den demokratischen Diskurs und destabilisiert die Gesellschaft.

Die alternative Wahrheit ist eine Lüge

Wie schnell das geht und wie gefährlich das ist, lässt sich in den USA beobachten. Es gibt sie nicht, die angeblich gestohlene Wahl durch Joe Biden. Diese sogenannte alternative Wahrheit ist nichts anderes als eine Lüge. Genauso wenig sinnvoll lässt sich darüber streiten, ob die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde kreist – oder ob nicht eigentlich der BVB deutscher Rekordmeister ist und nicht Bayern München.

„False balance“, falsche Ausgewogenheit also, ist kein Beleg für funktionalen Qualitätsjournalismus, sondern eher für dessen Abwesenheit. Falsche Ausgewogenheit kommt immer dann ins Spiel, wenn Journalisten keine Ahnung haben, wenn sie nicht recherchieren können oder wollen, wenn sie nicht einmal Plausibilitäten überprüfen.

In der Wissenschaftsberichterstattung etwa wird dann nicht mehr unterschieden zwischen Konsens- und Minderheitenpositionen, zwischen echter Forschungsexpertise und geschäftszentrierter Scharlatanerie. Alles wirkt gleich gültig, und das Publikum, oder schlimmer noch: die Politik, vermutet die Wahrheit irgendwie in der Mitte. Die Erde kreist dann zwar um die Sonne, aber nur manchmal. Und Obst ist gesünder als Schokolade, aber nicht immer.

Krisen mit Fakten bewältigen

Falsche Ausgewogenheit kann auch ein Beleg sein für Sensationsjournalismus, der sich nicht zuerst der Wahrheit verpflichtet fühlt. „Die Corona-Lüge!“ – das klingt nach einer verkaufsträchtigen Schlagzeile. Und wenn der Corona-Leugner dann neben Karl Lauterbach in der Fernsehshow sitzt und Schreierei und Verunglimpfung mehr und mehr die ruhige Argumentation ablösen, dann hilft das zwar nicht der Wahrheitsfindung, aber der Einschaltquote. Zumindest kurzfristig.

Langfristig sieht die Welt, zum Glück, ganz anders aus. Dort, wo vernunftgeleiteter Konsens hergestellt werden kann, ist der Ort für Orientierung; gesicherte Fakten produzieren Gewissheiten, die uns helfen, durchs Leben zu kommen und die immer herausfordernderen Krisen zu bewältigen.

Harte Klimaleugner etwa helfen uns nicht und sollten darum in seriösen Medien auch nicht zu Wort kommen – außer, um sie und ihre ureigensten Interessen zu entlarven. Die meisten Menschen verstehen das. Die meisten Menschen schätzen das. Sie schätzen seriösen, einordnenden Journalismus.

Das Vertrauen wächst

Eine Langzeitstudie von Instituten der Universitäten Mainz und Düsseldorf zeigt, dass das Vertrauen in die etablierten Medien wächst, die für diesen seriösen Journalismus stehen. Besonders hoch ist das Vertrauen der Menschen in die Regionalzeitungen und ihre Online-Angebote. Ausgerechnet in der Corona-Krise ist dieses Vertrauen sogar noch einmal gewachsen. Am Ende des Jahres 2020 gaben nur 16 Prozent der Deutschen an, man könne den Medien „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ vertrauen.

Dieser Befund deckt sich auch mit den Erfahrungen der FUNKE-Redaktionen. Vor allem unsere lokale und regionale Corona-Berichterstattung erzielte weit überdurchschnittliche Reichweiten in der Leserschaft. Kein Wunder: Marken wie die WAZ stehen seit Jahrzehnten für Seriosität, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Und so wird es auch bleiben.

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Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 75. Geburtstages der WAZ. Alle Artikel zum Jubiläum finden Sie unter waz.de/75jahrewaz. Unsere große Jubiläumsausgabe können Sie auch online durchblättern als digitales „Flipbook“: waz.de/jubilaeum.