Hamburg. 100.000 evangelische Christen beten und diskutieren in Hamburg. Die frühere EKD-Vorsitzende Margot Käßmann wünscht sich mehr „Nervensägen“ für Deutschland, während sich Bundespräsident Joachim Gauck mehr pastoral als präsidial gab. Am Freitag stehen Auftritte von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Herausforderer Peer Steinbrück (SPD) auf dem Programm.

Wo die Fußgängermassen am Morgen aus dem „Planten un Blomen“-Park zu den Messehallen strömen, macht ein junger Mann mit schwäbischem Akzent den Schülerlotsen. Eigentlich soll er hier nur die kostenlosen Kirchentagszeitungen verteilen. Aber wenn die Ampel Rot zeigt und die Besucher dann bei ihm stehenbleiben müssen, findet sie deutlich mehr Abnehmer.

Gegenüber in der Messe ist Halle B5 ohnehin schon längst überfüllt. Rund 7000 Christen haben einen der begehrten Papphocker-Plätze erhalten, um gleich zu Beginn des Kirchentags einer der Hauptdarstellerinnen zuzujubeln. „Bibelarbeit mit Prof. Margot Käßmann“ – was im Programmtext vergleichsweise trocken klingt, ist für viele Besucher ein Höhepunkt.

Treue Fangemeinde

Und die treue Fan-Gemeinde der früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – Altersschwerpunkt zwischen 45 und 65 – mault lautstark, als die Leinwand für den hinteren Teil der Halle nicht funktioniert. Anders als noch vor vier Jahren in Bremen hat Käßmann mittlerweile zumindest musikalische Unterstützung, so dass sich Bibelvortrag und Gesang abwechseln.

„Wer singt, betet zweifach“, zitiert Käßmann Luther. Nachdem sie vor drei Jahren nach einer Alkoholfahrt vom EKD-Ratsvorsitz zurückgetreten ist, wirbt sie mittlerweile als Lutherbotschafterin für das Reformationsjubliäum im Jahr 2017. Heute gehe es „um eine Frau, die nervt – das kann ja interessant werden“, beginnt sie ihre Auslegung der Bibelstelle, in der Jesus von einer Witwe erzählt, die von einem ungerechten Richter wieder und wieder ihr Recht einfordert.

Käßmann ist lebensnahe Theologin und souveräne Entertainerin und trotz ihrer wechselvollen Geschichte in der evangelischen Kirche nach wie vor eines ihrer Aushängeschilder. Und sie lässt sich auch nicht aus dem Konzept bringen, als wenige Minuten nach dem Start tosender Applaus ihren Vortrag unterbricht – die Technik hat die Leinwand doch noch in Betrieb genommen. Jetzt kann auch der hintere Teil der Zuschauer die 54-jährige Ex-Bischöfin sehen.

Nervensägen gewünscht

„Nervensägen“ wie die Witwe wünsche sie sich auch unter den Christen, sagt Käßmann: „Wenn es um Recht geht, um Menschenwürde, um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Die 7000 Zuhörer in der Messehalle jubeln. „Gerechtigkeit ist und bleibt ein zentrales Thema“, sagt Käßmann – und nennt die Lage im US-Gefangenlager Guantánamo und den Umgang deutscher Behörden mit Asylsuchenden als moderne Beispiele für die in der biblischen Geschichte beschriebene Willkür.

Für die einen ist Kirchentag genau das: große Podien und große Politik. Viele Käßmann-Fans bleiben gleich sitzen, um im Anschluss an der Debatte mit Bundespräsident Joachim Gauck über Inklusion teilzunehmen. Oder sollte man besser Bundespastor Gauck sagen? Der Kirchentag ist ein Heimspiel für den ehemaligen Pfarrer, der viele Jahre selbst in der Kirchentagsbewegung engagiert war. Mit einem nordisch-lockeren „Tja, da bin ich“, hatte er nach dem Eröffnungsgottesdienst am Mittwochabend sein Grußwort eingeleitet, das am Ende eher wie eine Predigt wirkte. Und auch auf dem Podium gibt er sich eher pastoral als präsidial.

Auch wenn die Ökumene im offiziellen Programm nur ein Thema von vielen ist, im Kirchentagsalltag ist sie sehr präsent. Gleich um die Ecke betreiben 19 (!) verschiedene Kirchen gemeinsam das Ökumenische Forum – ein bundesweit einmaliges Modell der Zusammenarbeit.

Zwischen Fischmarkt und Alster

Davon und von der heiteren Kirchentagsatmosphäre zwischen Fischmarkt und Alster bekommt Reinhard Pohle so gut wie nichts mit. Der Jugendreferent des Kirchenkreises Wesel hat gerade eingekauft und sitzt jetzt am Mittag mit Tochter und Schwiegersohn zwischen Luftmatratzen und Schlafsäcken im Klassenraum eines Hamburger Gymnasiums.

250 Jugendliche – aktuelle und ehemalige Konfirmanden – vom Niederrhein betreut Pohle hier als Quartiermeister, managt die Unterbringung der Gemeinschaftsunterkunft, sorgt fürs Frühstück – und kocht sogar ein Abendessen. „144 Liter Milch und zehn Kilo Schokocreme“, haben sie besorgt, erzählt er. Und allein beim Frühstück am morgen sind 700 Brötchen über den Tresen gegangen.

„Wir wollen die Kirchentagsfahrt so günstig wie möglich gestalten“, sagt Pohle. Und der Erfolg in Form ständig wachsender Teilnehmerzahlen gibt ihm recht. Konzerte wie das der A-capella-Band „Wise Guys“ seien bei den Jugendlichen besonders beliebt. „Aber auch Auftritte von Promis wie Angela Merkel“.

Warum Pohle – immerhin nahe am Ruhestand – sich so sehr ins Zeug legt, um möglichst vielen Jugendlichen einen Kirchentagsbesuch zu ermöglichen? Die jungen Leute sollen sehen, wie bunt und vielfältig Kirche seien kann, sagt Pohle. „Langweilige Kirche haben wir schon genug.“