Datteln. . Die Zahl der dicken Kinder in Deutschland steigt und nimmt ein dramatisches Ausmaß an. Hinzu kommt: Wer übergewichtig ist, ist oft massiv übergewichtig. Ein Interview mit dem Ernährungsexperten Prof. Dr. Thomas Reinehr aus der Kinder- und Jugendklinik Datteln.
Chefarzt Prof. Dr. Thomas Reinehr (43) leitet seit zweieinhalb Jahren die neue Abteilung für pädiatrische Endokrinologie (Lehre von den Hormonen), Diabetologie (Zuckerkrankheit) und Ernährungsmedizin an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln. Bereits im Jahr 1999 hat er dort das Adipositas-Projekt „Obeldicks“ mit 13 Kindern gestartet. Mehr als 1200 Kinder und Jugendliche haben seitdem daran teilgenommen. WR-Redakteurin Katja Sponholz sprach mit ihm über das Thema Fettleibigkeit bei Kindern und die Folgen davon.
Es heißt, dass immer mehr Kinder zu dick sind. Stimmt das?
Dr. Thomas Reinehr: Allerdings. Die Häufigkeit von massivem Übergewicht, von Adipositas, hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Es ist allerdings in den letzten fünf Jahren bei Einschulungsuntersuchungen zu sehen, dass die Anzahl der Übergewichtigen und massiv Übergewichtigen nicht mehr zunimmt. Das deckt sich mit den Zahlen der USA, wo in den letzten fünf Jahren ein Stillstand der Epidemie stattgefunden hat.
Das bedeutet aber nicht, dass das jetzt nur gute Nachrichten sind, weil wir uns auf einem sehr hohen Niveau befinden. Und was in den letzten Jahren immer klarer geworden ist: Das Problem zeigt sich gar nicht so sehr bei den Einschulungen, sondern die Anzahl der Übergewichtigen nimmt danach zu. Und wenn wir immer nur Einschulungsuntersuchungen als Vergleichsgröße nehmen, wie es viele Jahre getan wurde, unterschätzt man das Problem.
Das Erschreckende heute ist, dass Jugendliche nicht nur massives Übergewicht haben, sondern dass eine neue Kategorie eingeführt wurde, das extremste Übergewicht. Es gibt Beispiele, da ist ein Junge 14 Jahre alt, 1,55 Meter groß und wiegt 144 Kilogram. Das ist eine Dimension, wo sich die Kinder schon gar nicht mehr bewegen können, geschweige denn sportfähig sind. Hochrechnungen zufolge gibt es bereits rund 150 000 Jugendliche, die diese extremste Form der Adipositas haben. Hier sehen wir den größten Zuwachs. Sprich: Nicht nur die Zahl der übergewichtigen Kinder steigt, sondern auch das Ausmaß nimmt dramatisch weiter zu. Also wenn übergewichtig, dann meist auch massiv übergewichtig.
Was bedeutet das für den Gesundheitszustand der Kinder – und auch mögliche Folgeerkrankungen?
Reinehr: Die Lebensqualität übergewichtiger Kinder ist geringer als die von Krebskranken, das muss sich unsere Gesellschaft klar machen. Übergewicht sieht jeder, es ist nicht wie bei anderen Krankheiten, die man vielleicht verstecken kann. Diese Kinder werden permanent angesprochen, gehänselt, gemobbt.
Aus medizinischer Sicht ist das Schlimmste daran, dass Übergewicht im Kinder- und Jugendalter die Lebenserwartung verkürzt. Es war lange in der Diskussion, ob das so ist. Aber die Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Altersdiabetes führen zu Gefäßveränderungen, die wir schon bei Kindern messen können.
Warum Aufklärungskampagnen zur gesunden Ernährung nicht greifen
Aber wächst sich das nicht von alleine aus, wenn die Kinder älter sind?
Reinehr: Nein, das stimmt nicht. Das klappt nur bei ganz Kleinen. Wenn die Kinder älter als vier Jahre sind, funktioniert das nicht mehr. Tatsache ist: Die von der extremen Form der Adipositas Betroffenen werden nie arbeiten können in unserer Gesellschaft, nie in unser Sozialsystem einzahlen, werden immer nur von anderen leben. Es gibt eben nicht nur den medizinischen Aspekt, oder den psychologischen, wie sie gemobbt werden, es gibt auch einen gesamtgesellschaftlichen Aspekt. Dies ist eine verlorene Generation.
Was können wir tun, damit es nicht soweit kommt?
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Reinehr: Es gibt den Weg der Prävention und der Therapie. Man sagt, Prävention sei am besten – wenn sie denn hilft. Aber das ist ein großes Problem, denn all die Aufklärungskampagnen, was gesunde Ernährung ist, die bringen alle nichts. Das Einzige, was bei Prävention wirklich hilft, ist es, die Umweltbedingungen zu verändern. Mit dem Forschungsinstitut für Kinderernährung haben wir eine Studie in Dortmund und Essen durchgeführt, wo keine gesüßten Getränke mehr in Schulen verkauft werden durften. Das Ergebnis: Dort, wo nur Wasser getrunken werden durfte, war der Anstieg des Übergewichts geringer, als dort, wo die Automaten mit gesüßten Getränken standen. Leider hat diese Studie, die vom Bundesverbraucherministerium mitfinanziert wurde, bisher keinen Eingang in die Entscheidungen der Politik gefunden. Das liegt sicherlich auch daran, dass es natürlich eine unheimliche Lobby in der Lebensmittelindustrie gibt. Und die Schulen leben ja auch davon, dass bei ihnen auch gesüßte Getränke verkauft werden. Manche Sportgeräte werden zudem von den Getränkeherstellern gesponsert, so dass es ganz schwierig ist, aus diesem Dilemma wieder herauszukommen. Und es zeigt: Prävention kann nur funktionieren, wenn die Politik sie sich auf die Fahnen schreibt und Regeln vorgibt. In anderen Ländern ist das so.
Man kann auch über die Lebensmittel-Ampel streiten, aber wenn der Verbraucher im Supermarkt zwei Pizzen zur Auswahl hat und die eine hat eine rote Ampel und die andere eine gelbe, dann kann man ja ahnen, welche Pizza der Verbraucher kaufen wird. Die Lebensmittelindustrie möchte jedoch verschleiern, was sich in den Produkten befindet.
All dies sind Dinge, wo in deutscher Politik immer Arbeitsplätze vor Verbraucherschutz und Gesundheit gestellt werden. Man isst sozusagen fürs Bruttosozialprodukt.
Was kann denn eine Therapie leisten?
Reinehr: Der Ansatz ist schwierig und sie kann natürlich längst nicht jedem helfen. Ein Schulungsprogramm funktioniert immer nur dann, wenn die gesamte Familie motiviert ist. Es nützt nichts, nur das Kind zu therapieren. Man weiß aus Studien, dass es viel wichtiger ist, die Eltern einzubinden. Andererseits reichen Schulungsprogramme nur für die Eltern nicht aus, weil sonst unter anderem die Schuldfrage ins Spiel kommt, und die Eltern anmerken, das Kind ist doch übergewichtig, warum soll ich denn kommen.
Aber die Eltern tragen doch tatsächlich die Verantwortung, wenn ihre Kinder zu dick sind!?
Reinehr: Das ist nicht ganz richtig, denn die übergewichtigen Kinder haben fast auch alle eine Veranlagung dazu. Sie essen gar nicht unbedingt so viel anders, sie haben nur Gene, die sehr zur Fettspeicherung neigen. Das ist in Hungerzeiten ein Vorteil, in unserer Überflussgesellschaft jedoch ein erheblicher Nachteil.
Medienkonsum ist der größte Risikofaktor - zuvieles glotzen macht auf Dauer dick
Das heißt, die Eltern, die sagen, das sind die Gene und da könne man nichts machen, haben Recht?
Reinehr: Nein, das wäre falsch. Aber es heißt, dass es schwerer ist. Man kann trotzdem abnehmen und etwas gegen sein Übergewicht tun, wenn man sich entsprechend bewegt. Aber man muss darauf achten, ein Leben lang - mehr als die, die die günstigen Gene haben.
Was sind denn hauptsächlich die Ursachen für Übergewicht?
Reinehr: Neben der Veranlagung ist es der Aspekt, wie viel sich die Kinder heute noch bewegen, wobei ich nicht den Schulsport meine. Der Medienkonsum ist der größte Risikofaktor für Adipositas. Man weiß, dass ein Viertel aller Fünf- bis Sechsjährigen einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer haben. Dort, wo es pro Haushalt nur ein Gerät gibt, wird auch nur halb so viel geschaut. Hinzu kommt, ob die Kinder und Jugendlichen überhaupt noch Zeit haben, um nach draußen zu gehen und sich zu bewegen. Gibt die Schule ihnen noch Möglichkeit dazu? Die Kinder müssen doch heute alle in unserer Leistungsgesellschaft funktionieren.
Haben wir schon den Höhepunkt erreicht, oder wie wird die Entwicklung zu diesem Thema Ihrer Meinung nach aussehen?
Reinehr: Ich glaube, das Problem wird sich weiter zuspitzen. Heute haben wir in Deutschland eine Million adipöse Kinder und Jugendliche. Ich glaube zwar nicht, dass ihre Anzahl zunehmen wird, aber das Ausmass des Übergewichts der Kinder und Jugendlichen wird immer mehr, das ist das große Problem. Und ich bin sehr pessimistisch. Ich sehe nicht, dass unsere Politik zu diesem Thema in den letzten Jahren irgend etwas Sinnvolles gemacht hat, da kann ich nichts erkennen. Es gibt viel Aktionismus, aber keine Konsequenz, keine Nachhaltigkeit. Nach ein zwei Jahren schläft wieder alles ein. Das ist einfach kein attraktives Thema für Politiker, die wiedergewählt werden wollen.
Sie gelten als absoluter Experte auf diesem Gebiet, beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema und haben bereits 1999 das Programm „Obeldicks“ an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln gestartet. Was ist das Besondere daran?
Reinehr: Dass es so verschiedene Säulen hat: Kinder und Jugendliche lernen nicht nur in Gruppentherapie etwas über die Bedeutung von Ernährung und Bewegung, sondern haben auch Einzelgesprächen mit Psychologen. Und es ist ein Projekt, was evaluiert ist. Wir haben im Laufe der Jahre schon viele Studien betrieben und Erfahrungen sammeln können, so dass wir mittlerweile schon zu einer Adipositas-Trainer-Akademie entwickelt haben.
Solch einen Schulungsstandort, der über so viele Jahre eine ambulante Therapie anbietet, gibt es sonst nicht in Deutschland, da sind wir wirklich etwas Besonderes.
Es gibt viele stationäre Reha-Einrichtungen, wo man gut abnehmen kann. Aber man weiß auch, dass die nachgewiesene Erfolgsquote nach einem Jahr nur noch bei acht Prozent liegt. Wir haben ein anderes Konzept, wir setzen im Alltag der Kinder an.
Ihr Ziel ist es nicht, dass die Kinder und Jugendlichen in dem Jahr bei Ihnen abnehmen, sondern dass sie ihr Gewicht halten – weil sie ja wachsen und dadurch automatisch dünner werden. Ihre Statistik besagt, dass 79 Prozent der Kinder ihr Gewicht halten konnten. Das ist ein großer Erfolg, oder?
Reinehr: Ja, ein bedeutender Erfolg! Wenn man bedenkt, dass man in der Pubertät im Schnitt 9 bis 11 Zentimeter wächst, dann wäre es so, als ob man als Erwachsener in dem Jahr zehn Kilo abnimmt. Und das muss man erstmal schaffen...