Essen/Dortmund. . Unterlassene Hilfeleistung ist die Regel, Strafen sind Theorie: Das sagen der Psychologe und die Anwältin zum Fall des Mannes, der in Oberhausen an einer belebten Straße zusammenbrach und an einem Herzinfarkt starb. Nur ein Lkw-Fahrer stoppte, um zu helfen, alle anderen gingen weiter.
Der Mann bricht zusammen, er stirbt auf dem Bürgersteig einer belebten Straße an einem Herzinfarkt. Ein Lkw-Fahrer stoppt, um zu helfen, andere fahren weiter, Passanten gehen achtlos ihrer Wege. Passiert, wie berichtet, am Mittwochfrüh in Oberhausen. Der Fahrer muss betreut werden, er ringt um Worte und sagt „Ich muss mich schämen – für uns alle.“
In China blieb ein kleines Mädchen vor einigen Wochen nach einem Unfall schwerverletzt auf der Straße liegen und wurde ein zweites Mal von einem Kleintransporter überrollt, es erlag seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus. Das Drama löste eine Debatte über den Zustand der Gesellschaft in China aus. Und wie steht es mit uns? Geht das Mitgefühl verloren?
Man kann nicht davon ausgehen, dass Menschen helfen, sagt Sascha Schwarz, Sozialpsychologe an den Universitäten Dortmund und Wuppertal. So traurig das klinge: „Das ist ein Sonderfall.“ Man müsse sie, sofern das geht, als Hilfesuchender gezielt darauf aufmerksam machen. Schwarz glaubt aber nicht, dass das Mitgefühl früher größer gewesen sei. „Mit der zunehmenden Verstädterung ist allerdings alles anonymer geworden, und wir sind immer mehr Reizen ausgesetzt, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen“, sagt er. „Viele Menschen gehen mit einer Art Autopilot durch die Welt und analysieren nicht jeden Reiz, dem sie ausgesetzt sind. Es würde uns auch überfordern, über alles sofort nachzudenken.“
Weniger Chance auf Hilfe, je mehr Menschen da sind
Heißt: Oft werde eine Situation, in der Hilfe nötig wäre, als solche gar nicht interpretiert. Schwarz: „Der Mann, der auf der Straße liegt, wird schnell als Betrunkener abgetan, der gleich wieder aufsteht.“ Schwarz verweist beim langen Weg bis zu einer Entscheidung, dass man hilft, auf die Forschungen der amerikanischen Psychologen Bibb Latané und John Farley .
Die beiden haben schon 1964 in einer Studie festgestellt, dass die Chance auf Hilfe geringer wird, wenn die Zahl der Zeugen groß ist: Je mehr andere Menschen zugegen sind, desto weniger fühle ich mich in der Verantwortung, zu helfen, ist bei ihnen zu lesen. Und: Wenn die anderen nicht helfen, die vielleicht mehr wissen als ich, wird es sich wohl nicht um einen Notfall handeln.
Anlass war ein Artikel in der „New York Times“, der mit dem erschütternden Satz begann: „Mehr als eine halbe Stunde lang schauten 38 achtbare, gesetzestreue Bürger in Queens zu, wie ein Mörder eine Frau in Kew Gardens belästigte und auf sie einstach.“ Die 28-Jährige hatte wiederholt um Hilfe gerufen, doch niemand, der aus dem Fenster schaute, alarmierte die Polizei. „Ich wollte da nicht hineingezogen werden“, gab einer zu Protokoll.
Wer nicht hilft, muss nur selten Konsequenzen fürchten
Wer nicht hilft, muss nur selten Konsequenzen fürchten. „Das wird so gut wie nie angezeigt“, sagt die Essener Rechtsanwältin Heike Michaelis. Laut Strafgesetzbuch ist eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr möglich, aber das ist Theorie. Michaelis: „Man muss dann ja auch noch Vorsatz nachweisen. Eine Fahrlässigkeit, also wenn man die erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, wird nicht bestraft.“
Belangt werden kann man, wenn man bei Unglücksfällen, Gefahr oder Not nicht hilft, obwohl es nötig und zumutbar wäre, ohne erhebliche Risiken einzugehen, erklärt sie.
Welche Risiken könnte es geben, sich um einen Sterbenden auf dem Bürgersteig zu kümmern?