Münster. Impfungen haben viele tödliche Krankheiten besiegt. Genau deshalb wissen Menschen das nicht mehr, sagt Impfhistoriker Malte Thießen.

Ausgerechnet im Deutschland der 1930er-Jahre war die Teilnahme an der neuen Impfung gegen Diphterie freiwillig. Das Reichsinnenministerium warb mit dem im Nazi-Staat hochgradig absurden Satz: "Warum Zwang anwenden, wenn es freiwillig besser geht." Wer weiß denn sowas? Professor Malte Thießen natürlich, der Medizinhistoriker beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Münster.

Professor Thießen, gab es früher Impfzwang für bestimmte Berufsgruppen?

Historische Vorbilder gibt es zum Beispiel bei der Pockenschutzimpfung für alle Kinder, und für Ärzte auch im Erwachsenenalter. Außerdem wurden alle Soldaten der Bundeswehr während des Kalten Krieges lange Zeit gegen mehrere Infektionskrankheiten pflichtgeimpft, nicht zuletzt aus Angst vor biologischen Kampfstoffen aus dem Osten.

Wie sinnvoll ist eine solche Pflicht?

Wer sich partout nicht impfen lassen will, wird Umwege finden. Bereits im 19. Jahrhundert kursierten gefälschte Impfzeugnisse und Atteste. Damit erhöht die Impfpflicht die Gefahr versteckter Ansteckungen, die schwerer nachvollziehbar sind - bei Pflege- und Krankenhauspersonal ausgerechnet im Gesundheitswesen. Ich halte Appelle und Aufklärung für den sinnvolleren Weg.

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Was hat denn Impfen an sich bewirkt? Sind bei uns verbreitete Krankheiten komplett verschwunden?

Bis in die 40er-Jahre sorgte beispielsweise die Diphterie als "Würgeengel der Kinder" für Angst und Schrecken. Tausende Kinder starben daran jedes Jahr allein in Deutschland, bis die Einführung der Impfung die Erkrankungszahlen schnell senkte. Im Ruhrgebiet wütete noch Ende der 1950er-Jahre die Polio. Allein in NRW hatte die Kinderlähmung jedes Jahr tausende Todesopfer oder lebenslange Behinderungen zur Folge. Auch hier senkte die Einführung der Impfung Anfang der 1960er-Jahre schnell die Zahlen.

Das ist vergessen, oder?

Heute sind beide Krankheiten den allermeisten Deutschen unbekannt. Die früheren ,Volksseuchen' haben wir vergessen. Diese Erfolgsstory hat nur einen Haken: Denn mit dem Vergessen wird die Frage laut, wozu wir eigentlich noch Impfungen benötigen. Das wäre also das Vorsorgeparadox: dass Impfungen Opfer ihrer eigenen Erfolge werden. Das ist umso bedrückender, weil wir eigentlich die Chance hätten, Infektionskrankheiten wie die Kinderlähmung auszurotten. Im Falle der Pocken gab es ein Happy End, bei Masern und Polio warten wir bislang leider noch vergeblich.

Impfgegner gab es schon immer, oder?

Impfgegner ist nicht gleich Impfgegner. Schon im 19. Jahrhundert können wir ganz unterschiedliche Motive beobachten. Bereits damals gab es die Aluhüte, die Impfungen als ,Rassenschande' und ,Vergiftung des Volkskörpers' abtaten. Bis heute ranken sich Verschwörungstheorien um das Impfen. Für Horrorbilder von der Bedrohung durch einen totalitären Gesundheitsstaat oder durch entfesselte Pharmaunternehmen bilden Impfungen eine perfekte Projektionsfläche.

Und die anderen?

Derartige Impfleugner waren aber auch damals schon in der Minderheit. Sehr viel verbreiteter war Impfskepsis aufgrund von Nebenwirkungen - damals noch ein größeres Problem als heute - oder wegen der Sorge, dass Pflichtimpfungen die Grundrechte des Bürgers einschränkten. Ängste vor Nebenwirkungen oder Grundrechts-Eingriffen sollte man ernst nehmen, um Skeptiker und besorgte Eltern für Impfungen zu gewinnen. Überzeugungsarbeit und Aufklärung wurden zu Leitbegriffen deutscher Impfkampagnen.

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Gibt es Beispiele für zugelassene Impfstoffe, die wieder zurückgezogen werden mussten?

Sowohl bei der Tuberkulose als auch der Scharlach-Impfung wuchsen schon seit den 60er-Jahren unter Medizinern Zweifel an der Wirksamkeit. Vor diesem Hintergrund erschienen die Nebenwirkungen umso fataler. Die unwirksame Scharlach-Impfung wurde bereits im Laufe der 1960er-Jahre immer weniger eingesetzt. Die effektivere Tuberkulose-Impfung hielt sich sehr viel länger: Erst seit den 1990er-Jahren wird sie nicht mehr vom Robert-Koch-Institut empfohlen.

Und was passierte dann?

Die grundsätzliche Frage, ob die Krankheit oder die Impfung ein höheres Risiko birgt, ist abhängig von der Bedrohungslage. In Deutschland haben wir die Tuberkulose dank Antibiotika gut im Griff, weltweit sterben allerdings noch heute jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen daran.

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Stichwort Impfprivilegien. Was sagt uns die Vergangenheit da?

Beim Flugverkehr spielte Immunität schon früher eine Rolle: In der Bundesrepublik wurden in den 60er-Jahren Kontrollen eingeführt, ob Touristen gegen Pocken geimpft waren, um sie nicht nach Deutschland einzuschleppen. Verbreiteter waren solche Konzepte im Osten Deutschlands, beispielsweise wurde die Teilnahme an Sommerlagern für Kinder an den Immunitätsnachweis gebunden. Auch der Beginn des Studiums und der Eintritt in die Nationale Volksarmee setzten eine Immunitätsprüfung voraus.

Und jetzt erzählen Sie uns von den Nazis und der Diphterie.

Ausgerechnet das ,Dritte Reich' . . . Zunächst einmal war die Freiwilligkeit relativ. Bei den Impfterminen ging der Blockwart schon durch die Nachbarschaft und fragte nach, ob jedes Kind schon seinen Dienst für die gesunde ,Volksgemeinschaft' geleistet habe. Wichtiger noch war eine multi-mediale Werbeoffensive: Mit Filmen, Hörspielen, Plakaten und Broschüren und sogar mit Theaterstücken wurde für das Impfen geworben. Diese Werbung war sehr wirksam, weil sie dem Schrecken ein Gesicht gab: Filme über kranke oder geschützte Kinder waren offenbar sehr viel überzeugender als die Impfpflicht.

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Kann man Impfungen auch unter Kosten-Nutzen betrachten?

Lange Zeit waren Impfungen verschrien, weil sie so günstig waren. Im 19. Jahrhundert kritisierte die Sozialdemokratie Impfprogramme als eine Art Feigenblatt, weil der Staat sich so vor kostspieligen Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen drücke. Tatsächlich sind Impfungen nicht nur die effektivere, sondern immer auch die billigere Lösung, falls man Gesundheit überhaupt beziffern möchte. Die Folgekosten schwerer Erkrankungen sind ungleich höher als jeder Impfstoff. Und die gewaltigen menschlichen Kosten, die Infektionskrankheiten mit sich bringen, sind da noch nicht einmal eingepreist.