Recklinghausen. Verfahren vor Verwaltungsgerichten dauerten 2019 fast doppelt so lange wie 2017. Wie ein Unternehmer aus Oberhausen viel Geld verlor beim Warten.

Wer in NRW vor das Verwaltungsgericht zieht, muss sehr viel Zeit mitbringen: Die Verfahren dort dauerten im letzten Jahr im Durchschnitt 15 Monate, erfuhr die WAZ: fast doppelt so lange wie noch 2017. Die letzte detaillierte Statistik, die für 2018, führt sogar 503 Verfahren auf: rund ein Prozent, die länger als drei Jahre dauerten.

Ein Sprecher des NRW-Justizministeriums begründet die langen Verfahrenszeiten mit der „starken Zunahme asylrechtlicher Verfahren“ sowie auch allgemein gestiegenen Eingangszahlen. Nach der Zählung des Ministeriums erledigten Verwaltungsgerichte im Jahr 2008 35.846 Fälle aller Art und 2018, zehn Jahre später, 53.473 Fälle. Das Land hat in den letzten Jahren 204 zusätzliche Planstellen in dem Bereich geschaffen, Richter anderer Gerichtsbarkeiten dorthin abgeordnet und zuletzt 50 Stellen bis 2025 verlängert.

„Hier läuft der Staat Gefahr, seinen Rechtsschutzauftrag nicht mehr zu erfüllen“

„Hier läuft der Staat Gefahr, seinen Rechtsschutzauftrag nicht mehr zu erfüllen“, sagt Michael Oerder, der Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht NRW“ im Deutschen Anwaltsverein. Selbst wenn ein Mandant im Recht sei, „muss er sich überlegen, ob es sich lohnt, hierfür zu kämpfen“. Oerder sieht keine Anzeichen, dass sich die Verfahrenszeiten in den nächsten fünf Jahren signifikant verbessern. Es gebe zwar die Stellen, aber kaum geeignete Kandidaten.

Verwaltungsgerichte behandeln typischerweise Streitigkeiten zwischen Bürgern und der Verwaltung. Da kann es beispielsweise um die Höhe von Gebühren gehen, um die Versetzung eines Schulkindes, die Erteilung einer Schankerlaubnis oder Dieselfahrverbote. Auch Auseinandersetzungen um Datenschutz, Ordnungsrecht, Polizeirecht oder Baurecht landen vor Verwaltungsgerichten.

Der frühere Unternehmer verdient sein Geld nun als Fahrer

Es geht um Fälle wie den von Hussein Ibrahim. Er hat einmal gedacht, er könnte sich verbessern. Hat die Eventhalle drangegeben, die er in Herne betrieb, und eine neue Halle gemietet in Recklinghausen. Hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dazu Architekten, Statiker und diverse Gutachter.

Fünf Jahre ist das her. Die Halle ist noch immer nicht in Betrieb. „Es ist eine Katastrophe“, sagt Ibrahim (55), der heute in Oberhausen wohnt. Der frühere Unternehmer verdient nun seinen Lebensunterhalt als Fahrer.

Rechtsanwalt Wolfgang Wesener vertritt Ibrahim in seinem Rechtsstreit.
Rechtsanwalt Wolfgang Wesener vertritt Ibrahim in seinem Rechtsstreit. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Der Grund: Von der Stadt Recklinghausen bekam er zwar eine positive Antwort auf die Bauvoranfrage, aber dann, im November 2016, doch keine Baugenehmigung. Im Dezember 2016 suchte Ibrahim sein vermutetes Recht beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Seitdem liegt die Klage da rum. „Das hat mit effektivem Rechtsschutz nichts mehr zu tun“, sagt sein Anwalt Wolfgang Wesener aus Recklinghausen.

„Mehr Richter“ fordert Wesener, der Anwalt

Mit 37 Monaten Verfahrensdauer ist Ibrahim in der höchsten statistischen Kategorie des NRW-Justizministeriums angekommen. Das unterteilt die Verfahrensdauer vor Verwaltungsgerichten in Kategorien wie „Mehr als 3 bis einschließlich 6 Monate“, und die höchste ist: „Mehr als 36 Monate.“ Dort ist Ibrahims Platz.

Doch insgesamt hatten mehr als 20.000 Menschen in Nordrhein-Westfalen 2018, im letzten Jahr mit ausgefeilter Statistik, mit überdurchschnittlich langen Verfahren zu tun. Mit der erhöhten Zahl der Richterstellen „sind wir zufrieden“, sagt Martin Hollands von der „Vereinigung der Verwaltungsrichter“ im WDR. „Mehr Richter“ fordert dennoch Wesener, der Anwalt.

Umstellung auf den elektronischen Rechtsverkehr bindet Kräfte

Hinzu kommt noch: Längst nicht alle diese Stellen sind besetzt, die Neuen müssen sich einarbeiten, und die laufende Umstellung auf den sogenannten „elektronischen Rechtsverkehr“ bindet ebenfalls Kräfte. Mit Blick auf die Prozessdauer „rate ich Mandanten teils von einer Klage ab“, sagt ein anderer Fachanwalt. Denn die Zahl der Fälle steigt deutlich, allein seit 2008 um 50 Prozent.

Doch zurück nach Recklinghausen, zurück zu Hussein Ibrahim, der vor mehr als 25 Jahren als syrischer Kurde nach Deutschland kam und längst eingebürgert ist. Sein Problem mit der Halle im Ortsteil Hochlarmark begann schon kurios.

Allein das Lärmschutzgutachten hat 6000 Euro gekostet

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist das einzige im Ruhrgebiet, und das Gebäude ist denkmalgeschützt.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist das einzige im Ruhrgebiet, und das Gebäude ist denkmalgeschützt. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Denn nach der geglückten Bauvoranfrage, sagt Wesener, habe die Stadt seinen Mandanten aufgefordert, die Anfahrt zu der Halle zu verlegen, weiter weg von den Leuten, die in der Nähe wohnen. Auf der Strecke, die Recklinghausen verlangt, liegt aber ein städtisches Grundstück: Und dort versagt ihm dieselbe Stadt Recklinghausen das Wegerecht. Die Folge: keine Baugenehmigung. Die Absage kam im November 2016, im Dezember reichte er Klage ein und wartet seitdem.

Der Fall hat den 55-Jährigen sehr viel Lehrgeld gekostet. „Allein das Lärmschutzgutachten hat 6000 Euro ausgemacht“, sagt er. Und das ist nur ein Posten. Architekt, weitere Gutachter („Das Gebäude ist für circa 400 Personen ausgelegt“), vor allem aber die vielen Monatsmieten für eine leere und ungenutzte Halle summieren sich nach seiner Zählung sechsstellig. Teuer ja, Spaß nein. Zumindest die Miete ist er los, inzwischen sitzt ein Autohändler in der Halle. Schadensersatz beansprucht Ibrahim ebenso.

Die Qualität der Entscheidung könnte leiden unter Zeitdruck

Und so fordern manche Fachleute, so etwas wie eine Obergrenze für Verfahrensdauer zu schaffen; was es bisher gibt, ist die Möglichkeit einer Entschädigung nach überlangen Verfahren. Festlegungen darüber hinaus lehnt das nordrhein-westfälische Justizministerium auf Anfrage allerdings ab: Das griffe in die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Richter ein, so die Stellungnahme aus Düsseldorf. Manche Verfahren seien auch ausgesprochen komplex, und „die Qualität der abschließenden Entscheidung“ könne leiden unter Zeitdruck.

Ganz ohne Zeitdruck bewegt sich nun etwas im Falle Ibrahim auf abschließende Entscheidung zu. Im April soll es einen Ortstermin mit dem Gericht geben, dann könnte ein Urteil tatsächlich noch vor der Sommerpause fallen – mehr als fünf Jahre nach einer positiv beantworteten Bauvoranfrage . . .