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Trotz der Wirtschaftskrise fehlen in Deutschland 40.000 Akademiker aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Bildungsforscher Wilfried Bos erklärt, was getan werden kann, um junge Menschen für die Fächer zu begeistern
Es ist paradox: Selbst in der schwersten Wirtschaftskrise seit 60 Jahren fehlen in Deutschland 40.000 Akademiker aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Bis 2015 könnte der Fachkräftemangel auf 250.000 sogenannte MINT-Absolventen ansteigen. Für die Wirtschaft ist das fatal: Durch diese Fehlentwicklung wird der erwartete Aufschwung gebremst. Wir sprachen mit dem Dortmunder Bildungsforscher Professor Wilfried Bos über Möglichkeiten, dem absehbaren Mangel entgegenzu wirken.
Wer zugibt, Mathematik in der Schule nicht gemocht und auch im Physikunterricht nichts verstanden zu haben, erntet eher verstehende als abschätzige Blicke. Warum gilt dieses Unwissen in Deutschland als schick?
Wilfried Bos: Das frage ich mich auch. In Frankreich wäre das unmöglich, da würden Sie sich auf die Knochen blamieren. Nie würde dort einer freiwillig sagen, er hätte keine Ahnung von Mathematik. Das ist eine Schande. Ich bin in den 70er-Jahren sozialisiert, wenn wir auf einer Party waren, dann konnte ich mächtig Eindruck machen bei den Mädels, wenn ich was über Marx erzählte oder über Leary und wie der LSD handhabte. Wenn man Naturwissenschaften machte, war man einfach langweilig. Selbst in der heutigen Studentengeneration gelten die Naturwissenschaftsstudenten doch nicht als die Partykracher.
Mehr Frauen in MINT!
Laut Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln fehlen derzeit 40.000 Akademiker aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Bis 2015 könnten aufgrund des demografischen Wandels bis zu 250.000 sogenannte MINT-Fachkräfte fehlen. Interessieren sich einfach zu wenig Schüler und potentielle Absolventen für diese Fächer?
Bos: Wir haben keine wissenschaftliche Untersuchung dazu gemacht, warum das so ist. Wir können
nur wissenschaftlich feststellen und prognostizieren, dass das so ist. Wir haben ja schon riesige Probleme, die entsprechenden Lehrerplätze zu besetzten. Dann haben wir ein großes Problem, junge Frauen davon zu überzeugen, dass es erstrebenswert ist, in den MINT-Fächern zu arbeiten. Wenn wir den gleichen Anteil von Frauen hätten wie unter Männern, dann sähe es schon bedeutend besser aus.
2008 waren 32 Prozent der MINT-Absolventen Frauen, rund 80 Prozent der Hochschulabsolventinnen schlossen in nicht-naturwissenschaftlichen Fächern ab. Ab welchem Alter kann man diese unterschiedlichen Interessen und Leistungen der Geschlechter in den MINT-Fächern feststellen?
Bos: Das fängt schon in der Grundschule an - zumindest in Deutschland. Es ist ja kein Naturgesetz. Wir finden im internationalen Vergleich durchaus Länder, wo
Schülerinnen genauso gut oder besser sind in Mathematik und Naturwissenschaften. Es muss etwas mit der Sozialisation zu tun haben. Aber wir merken das schon in der Grundschule: Schon da sind in der Regel die Jungen besser in Naturwissenschaften und Mathematik, und die Mädchen sind besser im Lesen. Von der Stufe an setzt sich das dann in nicht unerheblichem Maße fort, und später ist es eben so, dass kaum Frauen diese Fächer studieren. Dass die Prozentzahlen überhaupt so hoch sind, das liegt an der Biologie. Denn wenn Frauen Naturwissenschaften machen, dann machen sie Biologie - in der Regel jedenfalls.
Schule ist keine Reparatur-Werkstatt
Wie sieht diese Sozialisation aus?
Bos: Das fängt in den Elternhäusern an, dass Kinder unterschiedliche Sachen zum Spielen bekommen. Das ist aber auch der Druck der ganzen Umwelt, also die Geschlechterrollen in Werbung, in Filmen. Tausende von Eindrücken, die Sie als Kleinkind schon jeden Tag wahrnehmen, also in welche Richtung Sie sich gefälligst zu entwickeln haben, um eben der Norm zu entsprechen.
Welche Rolle spielt dabei die Schule?
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Bos: Die Schule kann nicht Reparaturbetrieb für die Gesellschaft sein, sie kann nicht fundamental alles anders machen, aber sie kann ein bisschen ausgleichen. Es könnten zum Beispiel sein, dass die Mädchen besser im Lesen sind, weil in Grundschulen Lesen hauptsächlich von Frauen unterrichtet wird, und die nehmen eventuell eher Bücher, in denen Beziehungen thematisiert werde und das interessiert an Wettkampf und Abenteuer orientierte Jungs nicht.
Wir wissen aber: Wir lernen am besten, wenn uns die Sachen interessieren. Wenn es mit unserer Lebenswelt zu tun hat. Also bei Mädchen, warum wird Chemie nicht im Bereich Kosmetik unterrichtet? Man kann doch ein Projekt zur Kosmetik machen. Dann haben die Schülerinnen natürlich ein ganz anderes Interesse. Genauso wenn ich mit Jungen die wilden Fussballkerle lese, also hin zur Lebensweltorientierung. Aber damit kriegen Sie auch nur einen Teil der fehlenden MINT-Absolventen ausgeglichen.
Können Wettbewerbe wie „Jugend forscht – Schüler experimentieren“, Mathematik-Olympiade oder Känguru der Mathematik dazu beitragen, dass Naturwissenschaften beliebter bei Schülern werden?
Bos: Jein. Wettbewerbe sind wieder etwas, das stark die Jungs interessiert. Auch Frauen machen natürlich bei der Olympiade mit, aber trotzdem sprechen Wettbewerbe in der Schule eher Jungen an.
Der Unterricht muss nah am Leben sein
Welche andere Möglichkeiten gibt es, das Interesse an den MINT-Fächern zu steigern?
Bos: Forscher vom Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel haben vor einigen Jahren mal die Curricula in der Sekundarstufe I geändert und gesagt: Wir machen mal lebensweltorientierten naturwissenschaftlichen Unterricht. Die haben dann zum Beispiel ein Curriculum abgeändert für diejenigen, die einen sozialen Touch haben, für die aus der Ökoschiene und haben ein Curriculum gelassen, wie es ist: ziemlich mathematisch-analytisch.
Dann wurden die Schüler nach ihren Interessen in diese unterschiedlichen Curricula eingeteilt. Und es war sehr deutlich, dass alle von dem interessensgesteuerten Curriculum profitieren. Deswegen reden wir heute in der Erziehungswissenschaft und der Lehrerbildung sehr viel vom Individualisieren. Man kann den Lehrplan auch nicht zu 100 Prozent danach ausrichten. Wenn ich Frauen Chemie nur noch mit Kosmetik beibringe, dann zementiere ich natürlich das Rollenklischee. Den vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist eigentlich die Herausforderung. Wegzukommen, von dem eindimensionalen mathematisch-analytisch orientierten Unterricht in diesen Fächern.
Laut Studien sind die deutschen Schüler in Naturwissenschaften und Mathematik gar nicht so schlecht. Sie haben im Jahr 2007 die TIMSS-Studie [Trends in International Mathematics and Science Study] geleitet, die die Leistung von Viertklässlern in Mathematik und Naturwissenschaften im internationalen Vergleich untersucht hat. Die deutschen Grundschüler lagen im oberen Leistungsviertel. Bei der PISA-Studie, die das Wissen von 15-Jährigen testet, liegen deutsche Schüler nur im Mittelfeld. Wie ist das zu erklären?
Bos: Man könnte davon ausgehen, dass der Mathematik- und naturwissenschaftliche Unterricht in der Sekundarstufe I nicht so gut funktioniert wie in der Grundschule. Wobei ich mir bei den Naturwissenschaften in der Grundschule auch nicht sicher bin, ob das nicht die Sendung mit der Maus oder ob das wirklich der hervorragende Sachunterricht der Grundschule ist, der für die Leistungen verantwortlich ist. Ich weiß es nicht genau. Festzuhalten ist aber: Am Ende der Grundschulzeit sind wir in Mathematik und den Naturwissenschaften im internationalen Vergleich deutlich auf Augenhöhe mit den europäischen Ländern und unter den OECD-Ländern im oberen Leistungsdrittel, in der Sekundarstufe I sind wir das eben nicht.
Vernetzt lernen, heißt die Devise
Woran könnte das liegen?
Bos: Einmal sind es organisatorische Sachen. In der 5. Klasse kommt - wenn es gut geht – Biologie. Wenn man Glück hat, kommt in der 7 dann Physik dazu. Chemieunterricht zu haben, ist auch so eine Glückssache. Dann beziehen sich die drei Fächer nicht aufeinander. Wir wissen aber: Am besten lernt man vernetzt und aufbauend. Das heißt nicht, dass man zwingend naturwissenschaftlichen Unterricht in der Klasse 5 in einem Fach unterrichten muss. Aber kein Gesetz verbietet es einer Schule, zum Beispiel ein gemeinsames Projekt zu machen und da die drei Fächer gemeinsam zu unterrichten. Ein Staudammprojekt beispielsweise – da können Sie Physik, Chemie und Biologie zusammen dran unterrichten. Da sind soziale, politische, kulturelle und ökologische Aspekte drin und mathematisch-analytisch kann man auch noch was damit machen. So sind die Schulorganisation und der Unterricht aber oft nicht.
Könnte mehr Unterricht eine Lösung sein?
Bos: Nein. Wir haben 1999 in der TIMSS-Studie die Leistungen der Schüler in der Sekundarstufe I in Mathematik mit der Zahl der erteilten Unterrichtsstunden verglichen. Der Mittelwert lag bei rund 1050 Stunden Mathe. Deutschland liegt im Durchschnitt. Wir haben aber Länder, wie Bulgarien, die geben nur 770 Stunden, Schweden mit 867 Stunden oder Tschechien mit etwa 900, die besser abschneiden als Deutschland. Frankreich bringt mit 1500 Stunden auch nicht mehr Leistung als Bulgarien. Das heißt, wenn ein Schwellenwert an Menge erreicht ist, dann kommt es nicht mehr auf die Quantität an, sondern auf die Qualität. Hier in Deutschland ist der Wirkungsgrad suboptimal. Also nochmal zwei Stunden schlechter Mathematikunterricht bringt gar nichts. Wir müssen die Qualität des Unterrichts verbessern.
Stete Steigerung der Ergebnisse
Sowohl in den Naturwissenschaften als auch in Mathematik haben sich die deutschen Schüler von jeder PISA-Erhebung zur nächsten leicht verbessert.
Bos: Es hat in den Naturwissenschaften zum Beispiel ein Riesenprogramm gegeben, das SINUS-Programm zur Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Es waren hunderte von Schulen beziehungsweise Lehrern dran beteiligt, ihren mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht zu verbessern. Wir sind gerade an dem Projekt DortMINT beteiligt, wo wir die Ausbildung von Lehrern in den MINT-Fächern verbessern.
Trotz all dieser Kritikpunkte liegen die deutschen Schüler auf einem relativ hohen Leistungsniveau. Was funktioniert an deutschen Schulen denn gut?
Bos: Was ein starkes Pfund ist, das ist die gute Fachausbildung, die unsere Lehrer haben. Sie haben eine hohe universitäre Ausbildung in ihren Fächern, die sich international sehen lassen kann. Die didaktische, die erziehungswissenschaftlichen, die pädagogischen Teile, die müssen verbessert werden. Aber unsere Mathelehrer können Mathe, und das können sie richtig gut. Unsere Physiklehrer, das sind Physiker. Das sind richtig gut ausgebildete Leute, das ist wirklich ein Pfund mit dem Deutschland wuchern kann.
Es ist aber schwierig Lehrer für die MINT-Fächer zu finden.
Bos: Der Lehrerberuf für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht steht in Konkurrenz zur Industrie. Es ist relativ einfach einen Lehrer zu finden für Romanistik oder Anglistik, dort gibt es nicht die Konkurrenz mit hohen Gehältern, die draußen steht und die alle abfischt. Es müssen schon sehr ambitionierte Leute sein, die den Lehrerberuf sehr lieben, dass sie trotz unter Umständen wesentlich besseren Gehältern in der Wirtschaft in die Schule gehen. So viele Idealisten gibt es halt auch nicht.