Essen. Fachkräftemangel trotz steigender Arbeitslosenzahlen - was wie ein Widerspruch klingt, treibt viele Unternehmen um. Sie finden trotz Wirtschaftskrise kaum geeignetes Personal. Viele reagieren mit Kurzarbeit, um ihre Leute zu halten. Doch Experten warnen vor dem kommenden Aufschwung.
Mehr Arbeitslose, weniger Stellen - die Zeiten für Bewerber waren schon besser. Am Standort in Mülheim wirbt der Technologieriese Siemens mit derzeit 50 freien Stellen. In Boomzeiten waren es 250 bis 300. Entsprechend mehr Bewerber drängeln sich auf eine Stelle. Für das Unternehmen ist das auf den ersten Blick eine komfortable Situation. Aber am Grundproblem hat auch die Wirtschaftskrise nichts geändert: „Gerade bei Hochschulabsolventen ist der Markt weiterhin hart umkämpft“, sagt Siemens-Sprecherin Kerstin Reuland.
Fachkräftemangel trotz steigender Arbeitslosigkeit - was zunächst wie ein Widerspruch klingt, treibt viele Unternehmen auch in der Wirtschaftskrise um. Jedes siebte Unternehmen in Deutschland sieht im Fachkräftemangel das größte Risiko für den kommenden Aufschwung. Das ergab die aktuelle Konjunkturumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). „Das sind immer noch überraschend viele“, meint DIHK-Chefvolkswirt Volker Treier.
Zeitarbeit, IT-Branche und Gesundheitsbereich klagen besonders
Vor allem in der Zeitarbeit, im Gesundheitsbereich und in der IT-Branche wachsen laut DIHK die Sorgen, geeignetes Personal zu finden. „In diesen Wirtschaftszweigen besteht die Gefahr, dass die Wachstumsimpulse nicht vollständig durchschlagen können“, so Treier. Aber auch in der von der Krise gebeutelten Industrie ist der Fachkräftemangel ein bleibendes Damoklesschwert. Immerhin jeder zehnte Industriebetrieb sieht darin einen Hemmschuh.
Beim Tüv Rheinland sucht man aktuell über 110 neue Mitarbeiter. Fahrzeugtechniker, Elektro- und Umwelttechniker stehen ganz oben auf der Einstellungsliste des Prüfunternehmens. „Wir haben deutlich mehr Bewerber als noch vor anderthalb Jahren“, sagt Sprecher Hartmut Müller-Gerbes. Er räumt ein, dass man dabei von der Krise im Automobil- und Maschinenbau profitiert. Dennoch gebe es keine Entwarnung: „Wir spüren den Fachkräftemangel immer noch.“ Sein Chef Friedrich Hecker zeichnete in einem Focus-Bericht kürzlich ein noch viel drastischeres Bild: „Der Fachkräftemangel ist für uns eine echte Wachstumsbremse.“
Nach der Krise wird es doppelt schwer
3,64 Millionen Menschen suchen derzeit in Deutschland Arbeit. „Unternehmen, die jetzt Arbeitskräfte einstellen wollen, haben es sicher leichter, als noch in der Boomphase 2008“, sagt Axel Plünnecke, Arbeitsmarktexperte beim Wirtschaftsforschungsinstitut IW Köln. Er warnt jedoch: „Nach der Krise wird es für die Unternehmen doppelt schwer werden.“
Denn nicht nur der Aufschwung wird die Nachfrage nach Personal wieder rapide in die Höhe treiben, es werden auch viele ältere Fachkräfte in den Ruhestand gehen. Demografieersatzbedarf nennen Experten das Phänomen. Das Thema drängt in den kommenden zehn Jahren besonders in den naturwissenschaftlich-technischen Berufen, so Plünnecke.
Studie: 2030 fehlen 2,4 Millionen Hochqualifizierte
Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes Prognos, die die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bis 2030 untersucht, kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: „Deutschland steuert auf einen generellen Personalmangel zu“. Daran habe auch die Wirtschaftskrise nichts grundlegend geändert. 2030 werden der Studie zufolge 5,2 Millionen Arbeitskräfte fehlen - vor allem bei Hochqualifizierten wird eine riesige Lücke zwischen Angebot und Nachfrage klaffen. Es könnten dann 2,4 Millionen sein.
Das Fazit der Forscher deckt sich mit Plünneckes Aussagen: „Nach Überwindung der Krise wird das Thema Arbeits- und Fachkräftemangel wieder in den Mittelpunkt der Diskussion rücken, denn im kommenden Aufschwung werden sich die Rekrutierungsmöglichkeiten der Unternehmen drastisch verschlechtern“.
Ingenieure heute schon gesucht
Im Ingenieursektor deutet sich dies längst schon an: Seit 2005 ist die Zahl der Techniker, die älter als 55 Jahre sind, deutlich höher als die Zahl der Jung-Ingenieure unter 35. Wie der Verein deutscher Ingenieure (VDI) herausfand, geht in den kommenden zehn Jahren mindestens die Hälfte der bundesweit rund eine Million Ingenieure in den Ruhestand. Gleichzeitig kommen aber nur gut 400.000 Nachwuchskräfte von den Universitäten.
Viele Unternehmen haben deshalb aus den Erfahrungen der letzten Rezession gelernt. „Die Beschäftigung ist in der Krise erstaunlich stabil geblieben“, stellt IW-Forscher Plünnecke fest. Die Unternehmen reagieren mit flexiblen Arbeitszeiten und Kurzarbeit, um möglichst viele Mitarbeiter zu halten. Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB errechnete, konnten im vergangenen Jahr so 1,2 Millionen Jobs gerettet werden.
Die Firmen bemühen sich vor allem um hochqualifizierte Fachkräfte. „Von einen Ingenieur wird man sich als allerletztes trennen“, glaubt DIHK-Experte Treier.
Zwar ist auch die Zahl der arbeitslosen Ingenieure in der Krise stark gestiegen. Das zeigt der aktuelle Ingenieurmonitor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI). Derzeit sind rund 29.000 Ingenieure ohne Job. Doch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind weiterhin gut. Es gibt derzeit 47.600 offene Stellen. „Besonders die Nachfrage nach Maschinen- und Fahrzeugbauingenieuren übersteigt in den meisten regionalen Arbeitsmärkten das Angebot an Ingenieuren dieser Qualifikation“, sagt VDI-Direktor Willi Fuchs.
Mit Ausbildung gegen den Fachkräftemangel
Johannes Trum ficht das Thema Fachkräftemangel dagegen nicht an. Der geschäftsführende Gesellschafter der Oberhausener Elvers GmbH hat vorgesorgt. „Wir bilden seit Jahren aus und ziehen uns unser Personal selbst heran.“ Das Durchschnittsalter in seinem 65 Mitarbeiter zählenden Großhandelsunternehmen liegt bei nur 34. Erst im Januar übernahm er trotz allgemeiner Wirtschaftskrise seine vier Azubis, für September hat er bereits sechs neue Lehrlinge wieder unter Vertrag.
Mit externen Bewerbern machte der Unternehmer dagegen schlechte Erfahrung. „Vielen fehlte die Motivation“. Mittlerweile stellt das Unternehmen keine Arbeitskräfte von außen mehr ein. Für die Unternehmen, die über fehlende Fachkräfte klagen, hat Trum nur eine kurze Antwort übrig: „Selbst schuld.“