Düsseldorf. Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans warnt vor Populismus, fordert aber einen konstruktiven Streit der Demokraten über Zuwanderung.

Laut einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung wird die Mitte der Gesellschaft immer empfänglicher für extremistische Einstellungen, und die AfD erreicht in Umfragen immer neue Spitzenwerte und feiert Erfolge auf kommunaler Ebene. Dieser Trend verunsichert die demokratischen Parteien massiv. Als vor wenigen Tagen Journalistinnen und Journalisten aus Nordrhein-Westfalen in Berlin NRW-Bundestagsabgeordnete trafen, drehte sich jedes Gespräch auch um das Thema Migration, und von fast allen Abgeordneten war zu hören: „Wenn wir jetzt nichts tun, um Zuwanderung besser zu regeln, dann fliegt uns die Demokratie um die Ohren.“

Grüne für Schutz, Union für Abschottung, die SPD irgendwo dazwischen

Die Haltung der Grünen im Streit um Zuwanderung ist klar. „Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung. Sie gebietet es, dass wir den Menschen, die bei uns Zuflucht vor Krieg, Gewalt, Terror und Verfolgung suchen, Schutz gewähren“, sagte Tim Achtermeyer, NRW-Vorsitzender der Grünen, dieser Redaktion. Auf der anderen Seite redet die Union unbefangen über Grenzkontrollen und Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern. Und die SPD? Die scheint es in der Mitte zu zerreißen.

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Die jüngsten Aussagen von Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel irritieren viele seiner Parteifreunde, finden zum Teil aber auch Zustimmung. Im MDR-Interview rief Gabriel zur strengen Kontrolle der EU-Außengrenzen auf: „Man muss bereit sein, die europäischen Marinen aufzufordern, das Mittelmeer zu kontrollieren, Schiffbrüchige zu retten, sie aber dann auch zurückzubringen. Das sind keine schönen Bilder. Die werden uns das Herz zerreißen.“ Deutschland, so der frühere Außenminister, sei „der Jackpot, für jeden, der flüchtet“, und für die dänische Abschreckungsstrategie gegen Geflüchtete habe er „viel Sympathie“. Die demokratischen Parteien müssten darüber reden, ob man, wie in Dänemark, das Sozialsystem für Geflüchtete unattraktiver machen könne.

Walter-Borjans: "In dieser Debatte fehlt uns die rationale Mitte"

Fällt das in der Sozialdemokratie auf fruchtbaren Boden? Ein anderer früherer SPD-Vorsitzender, Norbert Walter-Borjans, tut sich schwer mit der Abschottungsrhetorik Er erinnert daran, dass das deutsche Asylrecht eine Reaktion auf die Schrecken des Nazi-Terrors war. Dennoch findet der Kölner, Demokraten sollten engagierter über Zuwanderung streiten. „In dieser Debatte fehlt uns leider die rationale Mitte. Die einen sind hochgradig sensibel, wenn es um die Kontrolle über jede Art von Zuwanderung geht. Die anderen würden am liebsten die Grenzen schließen, die Zuwanderung stoppen, und sie nehmen dabei sogar ,unschöne Bilder‘ von Ertrinkenden im Mittelmeer oder anderswo in Kauf“, sagte er dieser Redaktion. „Dazwischen ist eine große Leere, und wer sich dort reintraut, der wird von den Rändern heftig attackiert.“

Volksparteien dürfen sich nicht zu weit von den Menschen entfernen

Willy Brandt habe einmal gesagt, eine Volkspartei dürfe sich nicht zu weit von dem entfernen, was die Menschen mitzugehen bereit seien. Das gelte auch heute, meint Walter-Borjans. „Nicht zu weit“ heiße aber nicht, einfach Stimmungen hinterherzulaufen, sondern verantwortungsbewusst Führung zu zeigen und zum konstruktiven Streit im Respekt vor anderen Meinungen bereit sein.

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"Wir werden schon aus purem Eigeninteresse wesentlich mehr für Integration und für die Bekämpfung von Fluchtursachen tun und dafür auch wesentlich mehr Geld ausgeben müssen. Das wird nicht von heute auf morgen wirken. Deshalb brauchen wir gleichzeitig europaweit Regeln für Einreise und Rückführung, die die Aufnahmebereitschaft der Bürger und der Kommunen nicht ins Gegenteil kippen lassen", so Walter-Borjans weiter.

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"Es ist doch keine Überraschung, dass traumatisierte Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund in ihrer neuen Umgebung Sorgen auslösen, wenn sie nicht eng und intensiv begleitet werden. Da liegt unsere Verantwortung. Demokraten, die nur leichtfertig davon sprechen, dass wir uns abschotten und dabei auch hässliche Bilder in Kauf nehmen müssen, möchte ich mal auf einem Schiff sehen, von dem aus Schiffbrüchige zurückgewiesen werden. Wenn das normal würde, hätten wir schon verloren“, meint der 71-Jährige.

Taugt Dänemark zum Vorbild bei Migration und Integration?

Altbundespräsident Joachim Gauck lobt die dänischen Sozialdemokraten, weil es ihnen gelungen sei, „eine nationalpopulistische Partei unter drei Prozent zu bringen“. In Europa können einige wenige einflussreiche Sozialdemokraten der Versuchung nicht widerstehen, in rechten Gefilden zu wildern. 2020 war zum Beispiel der Landeshauptmann des Burgenlandes, Hans Peter Doskozil (SPÖ), in Düsseldorf Gast des damaligen NRW-SPD-Chefs Sebastian Hartmann. Dabei ging es auch um die Frage, ob die zuletzt erfolglose NRW-SPD von dem Österreicher das Siegen lernen könne. Doskozil war es in dem kleinen Bundesland gelungen, mit einer Mischung aus harter Grenzschließungsrhetorik und sozialen Wohltaten die rechtspopulistische FPÖ klein zu regieren. Der Sprung an die Spitze der SPÖ gelang Doskozil im Sommer 2023 allerdings nicht.

Der Ex-SPD-Chef und frühere NRW-Finanzminister Walter-Borjans warnt vor Spielen mit dem Feuer. Sigmar Gabriel und Joachim Gauck hält er vor, ihr Dänemark-Vergleich greife zu kurz. „Da wird mir zu viel über Abschottung geredet und zu wenig über andere Dinge, die die dänische Sozialdemokratie ausmachen. Zum Beispiel die Umverteilung von Reich zu Arm und die intensive Sprachförderung bei zugewanderten Kindern.“

Jochen Ott (SPD): Staat muss hart durchgreifen und besser integrieren

Dass sich die Perspektive in der SPD bei den Themen Migration und Integration ein Stück weit ändert, ist in diesen Tagen aber auch beim Landtagsfraktionschef Jochen Ott hörbar. Der Katholik, Bildungs- und Sozialexperte ist zwar völlig unverdächtig, mit rechten Positionen zu sympathisieren. Seitdem aber in der Domstadt acht jungen Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund vorgeworfen wird, in einem Schwimmbad ein 13-jähriges Mädchen bedrängt und missbraucht zu haben, ruft er nach umfassender Aufarbeitung des Falls.

Als Vater von drei Töchtern habe ihn dieser Fall zutiefst schockiert. „Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, dann müssen sie auch mit aller Entschiedenheit geahndet werden. Regeln sind dazu da, dass sie eingehalten werden. Und zwar von allen. Wir müssen klipp und klar deutlich machen: Solch ein Verhalten hat bei uns keinen Platz. Der Staat muss hier mit aller Härte durchgreifen und gleichzeitig besser integrieren“, sagte Ott dieser Zeitung. „Die Bürger erwarten zu Recht, dass unsere Werte von allen in unserer Gesellschaft gelebt werden.“

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