Essen. In NRW werden Leistungen für Kinder oft nicht abgerufen. Weil Eltern sich nicht kümmern – oder Verfahren komplex sind. Eine Betroffene erzählt.
Familien, die Zuschüsse für ihre Kinder beantragen wollen, stehen in NRW häufig vor bürokratischen Hürden, kritisieren Armutsexperten und Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Das ist einer der Gründe, warum Hilfen zur „Bildung und Teilhabe“ nur zu einem Drittel abgerufen werden, räumten Familienministerin Josefine Paul und Sozialminister Karl-Josef Laumann kürzlich auf einem Fachtag ein. Fatima ist Mutter von zwei Kindern – und kennt die Probleme nur zu gut.
„Etliche Papierstapel, Telefonate und auch Kopfschmerztabletten“ lagen hinter der 31-Jährigen und ihrem Mann, bis endlich alle Anträge abgeschickt waren – und beide erleichtert aufatmeten. Bis sie im Briefkasten wieder neues Antragspapier vorfanden. „Mal fehlte ein Formular, mal hatten wir uns verrechnet“, erzählt die Mülheimerin. Ständig mussten sie etwas beim Amt nachreichen. Die Familie verzweifelte fast dabei, Sozialhilfe zu beantragen.
Fehlende Infos zu Kinderzuschüssen: Hilfen blieben fast ungenutzt
Weil das Gehalt ihres Mannes nicht ausreicht, stehen ihnen Wohngeld und Landeszuschüsse für ihre Kinder, beispielsweise für „Bildung und Teilhabe“, zu. Ein „sperriger Begriff“, der nicht sofort verrät, was dahinter steckt, findet Fatima. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht öffentlich lesen.
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Nachdem sie sich „wochenlang durch die Anträge gekämpft“ hatte, bekam die Familie Coupons zugeschickt. „Doch es stand nicht dabei, was es genau damit auf sich hat und wo wir sie einlösen können“, sagt sie. Eine Bekannte habe ihr schließlich erklärt, dass sie damit etwa den Beitrag des Turnvereins für ihre Kinder zahlen könne. Fatima: „Ich hatte Glück, sonst lägen sie wohl immer noch ungenutzt herum.“
Armut bedroht immer mehr Kinder in NRW
So wie Fatima und ihrem Mann geht es vielen Eltern im Land. Dabei sind immer mehr Kinder von Armut bedroht: Neuen Zahlen des Landes zufolge lag der Anteil von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren im Jahr 2022 bei 25,9 Prozent. Zwei Jahre zuvor waren es noch 23,4 Prozent. „Wir müssen das, was wir auf den Weg gebracht haben, für alle erreichbar machen“, sagte Minister Laumann vor wenigen Tagen bei einer Fachtagung in Essen. Antragsverfahren müssten vereinfacht werden.
Unsere Redakteurin machte den Selbstversuch. Lesen Sie hier: In jeder Stadt läuft es anders
Doch neben den Problemen beim Ausfüllen der Anträge wüssten viele Eltern nicht, auf welche Hilfen genau sie ein Anrecht haben, kritisiert Michaela Hofmann, Armutsexpertin bei der Caritas in NRW. In der Regel klärt die örtliche Arbeitsagentur darüber auf. „Aber da ist jedes Jobcenter anders“, sagt Hofmann.
Einige wiesen etwa nur auf den Anspruch auf Schulbedarf hin. Diese Leistungen erhalten alle bedürftigen Familie zum 1. Februar und zum 1. August. „In manchen Jobcentern bekommen Eltern nur einen 30 Seiten langen Bescheid, in dem irgendwo vermerkt ist, dass man zum Beispiel auch Quittungen einreichen kann“, so die Expertin. „Das liest sich niemand durch.“
Viele Eltern kümmern sich nicht: Antrag auf die Klassenfahrt vergessen
Zudem könnten sich die Eltern mit ihren Fragen an Schulsozialarbeiter wenden. Doch die gibt es nicht an jeder Schule. Und Hofmann gibt zu bedenken: „Viele Eltern schämen sich, nach Unterstützung zu fragen.“ Das Gefühl kennt Fatima gut. Wenn sie Coupons in der Kita abgibt, damit ihr Sohn kostenfrei mittagessen kann, fühlt sie sich schlecht, „weil ich mir das nicht selber leisten kann“. Michaela Hofmann fordert deshalb, ein Mittagessen für alle Kinder im Kita- und Schuletat zu verankern.
Lehrkräfte und Erzieher berichten andererseits immer wieder von Fällen, in denen Familien sich einfach nicht um Hilfen kümmerten. Eine Lehrerin erzählt, dass eine Mutter den vor Wochen ausgehändigten Leistungsantrag für die bevorstehende Klassenfahrt ihrer Tochter noch immer nicht ausgefüllt habe. Eine andere berichtet von Eltern, die vergaßen, die Zuschüsse für die Nachmittagsbetreuung ihres Sohnes zu beantragen. Am Ende konnten sie die Beiträge nicht zahlen – und der Sohn blieb zuhause.
Armutsexperte: „Eltern müssen auch selbst aktiv werden“
Wie wichtig es aber für Kinder ist, dabei zu sein, erzählt eine dritte Pädagogin, die mit ihren Grundschülern über deren größten Wünsche für die Zukunft sprach: Ein türkischer Junge habe nichts mehr gewollt, als besser Deutsch sprechen zu können.
Auch Frank Jäger vom Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles sieht die Eltern mit in der Verantwortung. „Eltern müssen Integrationsangebote nutzen, damit ihre Kinder davon profitieren können“, betont Jäger. Doch gerade Menschen mit Sprachschwierigkeiten oder geringer Bildung bräuchten leichteren Zugang zu den Angeboten.
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„YouCard“ der Stadt Hamm macht die Verfahren einfacher
Das könne eine Chip-Karte sein, über die Familien alle ihnen zustehenden Hilfen abrufen können, sagt Jäger und verweist auf ein Angebot der Stadt Hamm: Mit der „YouCardHamm“ könnten die Menschen ihre bewilligten Leistungen direkt bezahlen. Zuvor müssen sie die Karte einmalig beim Leistungsanbieter vorlegen. Dieser kümmert sich dann um eine „Abbuchung“ von der Karte. Damit erreiche die Stadt über 95 Prozent der Anspruchsberechtigten.
Einfachere Verfahren wünscht sich auch Fatima. Sie selbst klärt heute ehrenamtlich andere Betroffene über ihre Ansprüche auf – um ihnen Papierberge, Telefonate und Kopfschmerztabletten zu ersparen.