Essen. Essen und das Ruhrgebiet sind erneut Hochburgen der Erdogan-Anhänger bei der Wahl in der Türkei. Experte: Es ist ein Denkzettel für Deutschland.
Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan konnte sich auf seine Anhängerschaft in Deutschland und in NRW auch dieses Mal verlassen. Während sich der türkische Präsident am 28. Mai wohl erstmals einer Stichwahl stellen muss, hätte er unter den Wahlberechtigten in Deutschland wohl eine satte Zweidrittelmehrheit einfahren können. Nach wie vor scheint seine Beliebtheit unter den Auslandstürken hoch zu sein. Auch das Ruhrgebiet zeigte sich bei der aktuellen Präsidentschaftswahl erneut als eine Hochburg des türkischen Präsidenten.
Etwa 65 Prozent der Wahlberechtigten mit türkischem Pass stimmten in Deutschland für Erdogan, ergaben erste Hochrechnungen. Auf seien Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der oppositionellen CHP entfielen demnach etwa 33 Prozent. „Die Stimmen der Auslandstürken könnten das Zünglein an der Waage sein, wenn es nach Auszählung aller Stimmen womöglich gar nicht mehr zu einer Stichwahl kommt“, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Burak Copur von der IU - Internationale Hochschule in Essen.
Höchster Wert für Erdogan in Essen
Im Wahlbezirk Essen wird der deutschlandweite Zustimmungswert für Erdogan noch weit übertroffen. Hier erhielt Erdogan nach ersten Zwischenständen mit 77,6 Prozent den höchsten Zuspruch in Deutschland, wie das Nachrichtenportal t-online unter Berufung auf türkische Medien berichtet. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu erreichte in der Ruhrgebietsmetropole demnach nur 20,7 Prozent. Damit konnte Erdogan das Ergebnis der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 (76,3 %) offenbar sogar noch verbessern.
Auch in Münster legten Erdogan demnach zu und kam auf 73,1 Prozent (2018: 68,8 %). Ebenso in Düsseldorf, wo er 71,1 Prozent erzielte (70,5 Prozent), während er in Köln mit 66,7 Prozent im Vergleich zu 2018 (66,3 %) fast gleich gut abschnitt. Das schlechteste Ergebnis fuhr Erdogan mit etwa 49 Prozent in Berlin ein, gleichauf mit Klilicdaroglu.
Experte: „Eine Protest- und Trotzwahl“
„Das Ergebnis der Wahl in Deutschland muss man auch als Denkzettel und Quittung für die deutsche Gesellschaft sehen, von der sich viele Türken diskriminiert und ausgegrenzt fühlen“, sagt Burak Copur, Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen. Es sei eine „Protest- und Trotzwahl“ der türkeistämmigen Menschen in Deutschland und in NRW, und wohl auch eine Reaktion auf die mehrheitlich Erdogan-kritische Öffentlichkeit. Viele Deutschtürken lebten zudem in einer Informationsblase, da viele auch hierzulande die staatstreuen türkischen Medien konsumierten und sich die Jugend vor allem über die Sozialen Medien informiere.
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Copur: „Der wahre Gewinner der Wahl ist der Nationalismus und der politische Islam in der Türkei.“ Sogar in den vom Erdbeben verwüsteten Städten der Türkei habe Erdogan oft besser abgeschnitten als 2018. „Das ist schwer zu verstehen“, räumt Copur ein. „Die Menschen haben offenbar trotz ihrer Notlage den ideologischen und religiösen Argumenten bei ihrer Wahlentscheidung mehr Gewicht gegeben als den ökonomischen.“
Herkunft entscheidet mit
Prof. Haci Halil Uslucan, Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen, relativiert indes die Bedeutung der Auslandstürken bei der Wahl. In NRW sind etwa 500.000 Menschen stimmberechtigt, bei einer Wahlbeteiligung von knapp 50 Prozent gehen also weniger als 250.000 ihre Stimme ab. Demnach haben in NRW etwa 165.000 Menschen Erdogan gewählt, rechnet Uslucan vor. „In der Türkei waren es 27 Millionen.“ Der Anteil der Stimmen aus Deutschland sei somit kaum wahlentscheidend, meint der Integrationswissenschaftler.
Ein Grund für die Beliebtheit Erdogans im Ruhrgebiet liege in der Herkunft vieler türkeistämmiger Menschen. „Hier leben überproportional viele bildungsferne AKP-Anhänger aus der Schwarzmeer-Region und aus Anatolien, die ebenfalls zu den AKP-Hochburgen in der Türkei gehören“, erklärte der Türkei-Experte. „Diese Menschen sind stark religiös geprägt, politisch konservativ und traditionsverbunden. Diese Einstellung hält sich auch in der Migration“, sagt Uslucan. Durch Moscheen, islamische Organisationen wie die Ditib und Kulturvereine seien sie leicht erreichbar und mobilisierbar.
Gute Chancen bei der Stichwahl
Zudem verfange auch bei jungen Türken in Deutschland die „Stolz- und Identitätspolitik“ von Erdogan, der sich als starker Führer präsentiere und auch die Türken im Ausland mit seiner „Politik der Umarmung“ anspreche, sagt Uslucan. „Auch wenn sie hier geboren sind, sagen viele junge Menschen: Unser Land ist die Türkei!“ Die deutsche Politik müsse sich fragen lassen, ob sie die türkeistämmige Jugend tatsächlich genügend im Blick habe.
Da bei der Stichwahl der abgeschlagene Kandidat Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz nicht mehr antritt, könnten einige Anteile der von Ogan erzielten 5,3 Prozent der Stimmen im zweiten Wahldurchgang an Erdogan gehen und ihm zum Sieg verhelfen. „Die deutschen und europäischen Hoffnungen auf Annäherung und Entspannung müssten dann mindestens fünf Jahre aufgeschoben werden“, sagt der Politik-Experte. Regime-Kritiker, Intellektuelle, Akademiker und liberale Demokraten könnten nun wieder vermehrt Zuflucht im Westen suchen.