Essen. Funda aus Gelsenkirchen wählt die CHP, „weil sie die größte Chance gegen Erdogan hat“. Türkei-Experte Copur spricht von einer „Schicksalswahl“.
Die Präsidentschaftswahl in der Türkei spaltet nicht nur das Land am Bosporus, sondern auch die türkische Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. Gewinnt Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan (AKP) eine dritte Amtszeit oder schafft sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der oppositionellen CHP die Sensation? Aktuelle Umfragen sehen sie Kopf an Kopf.
In Deutschland leben rund 1,5 Millionen Menschen, die bei der Wahl in der Türkei stimmberechtigt sind. In NRW sind es rund 500.000. Seit Donnerstag können sie bis 9. Mai ihre Stimme in den Generalkonsulaten an acht NRW-Städten abgeben: in Düsseldorf, Essen, Hürth bei Köln, Greven nahe Münster sowie in Dortmund, Siegen, Aachen und Bielefeld. Die Städte im Ruhrgebiet gelten traditionell als Erdogan-Hochburgen. Nach Ansicht von Experten dürfte sich daran seit der Präsidentschaftswahl Wahl 2018 wenig geändert haben. Bei einem knappen Wahlausgang könnten die Stimmen aus dem Ausland entscheidend sei.
Erdogans Politik bringt die "Demokratie in Gefahr"
Eine davon wird die Mehmet sein. Der 56-Jährige Essener wird wählen, denn er findet es wichtig, von diesem Recht Gebrauch zu machen. „Ich kenne mich sowohl in Deutschland und auch in der Türkei gut aus und glaube, dass ich die Situation dort gut einschätzen kann“, sagt er. Mehmet wird nicht für Erdogan stimmen. Ein Verwandter von ihm verdient in seiner alten Heimat, die er vor über 30 Jahren verlassen hat, gerade einmal den Mindestlohn. „Für ihn ist es schwierig, seine Familie zu versorgen.“ Über die Jahre, so sagt Mehmet, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich lesen möchte, habe sich in der Türkei ein System entwickelt, in dem nur ein Mann etwas zu sagen habe. „Dadurch ist die Demokratie in Gefahr.“
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Studentin Funda sieht das ähnlich: „Ich möchte meine Stimme als Ausgleich zu den vielen Deutsch-Türken nutzen, die ihr Kreuzchen wahrscheinlich bei Erdogan setzen werden“, sagt die 24-Jährige Gelsenkirchenerin. Sie wird ihre Stimme der größten Oppositionspartei CHP geben, „weil sie die größte Chance hat, gegen Erdogan zu gewinnen.“ Außerdem teilt sie viele Ansichten der Partei, wünscht sich aber langfristig eine jüngere Frau an der Spitze des Landes.
Der jetzige Präsident wirkt auf Funda nicht aufrichtig, „er ist feindselig und verhält sich seinen Gegnern gegenüber unfair“. Vor allem aber kritisiert sie, wie Erdogan sich bei der Erdbeben-Katastrophe verhalten hat. „Er war langsam und hat zu wenig geholfen.“ Der Fokus eines Staatsoberhauptes soll, so sagt die Studentin, auf dem Zusammenhalt eines Landes liegen.
Enttäuscht vom Herfausforderer Kilicdaroglu
Auch Kemal (42) fühlt sich verpflichtet zu wählen, hat sich aber für Präsident Erdogan entschieden. Obwohl er in Deutschland geboren ist, fühlt er sich mit der Türkei verwurzelt. Viele seiner Verwandten leben dort, jeden Urlaub verbringt er bei ihnen. Politisch ist der Gelsenkirchener eher zurückhaltend, aber „leider sind wir momentan gezwungen, uns für eine Seite zu entscheiden“. Von Erdogans Herausforderer Kilicdaroglu ist Kemal, der eigentlich anders heißt, enttäuscht. „Er hat sein Versprechen, die Großstädte zu stärken, nicht gehalten.“
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Den jetzigen Präsidenten wähle er vor allem aus Mangel an Alternativen, sagt Kemal. Zudem habe Erdogan die Bevölkerung gut durch die Corona-Pandemie gebracht. Und auch Frauen und Jugendliche stärke der Präsident vor Ort. Eines stört Kemal allerdings. „In meinen Augen regiert er zu aggressiv, will immer seinen Willen durchsetzen.“ Allerdings sei das Bild, das in Deutschland oft von Erdogan gezeichnet werde, zu negativ, findet Kemal. Aber teilweise habe Erdogan selbst zu diesem negativen Bild in Deutschland beigetragen. Die enge Verbundenheit der beiden Kulturen sieht Kemal als eine Bereicherung. Seine Familie fühlt sich wohl in Deutschland, seine Kinder wachsen hier glücklich auf. Sollte Erdogan die Wahl gewinnen, erwartet Kemal, dass dieser die Beziehungen zu Europa intensiviere.
„Die Türken in Deutschland können die Lebenswirklichkeit der Menschen in der Türkei nicht richtig einschätzen“, gibt Mehmet aus Essen zu bedenken. Deshalb wäre es besser, wenn nur die Türkinnen und Türken vor Ort im Land wählen dürften, findet er.
Der Experte: "Es ist eine Schicksalswahl"
„Es ist eine Schicksalswahl“, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Burak Copur vom Institut für Turkistik an der Uni Duisburg-Essen. Sowohl für die Türkei als auch für die deutsch-türkischen Beziehungen stelle das Wahlergebnis wichtige Weichen. „Die Stimmung ist angespannt und das Interesse hoch an den Wahlen in der türkeistämmigen Gemeinschaft. Daher gehe ich davon aus, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher ausfallen wird als bei der Wahl 2018“, sagt Türkei-Experte Copur. Bereits gestern bildeten sich zur Öffnung der Wahllokale lange Schlangen vor einigen Konsulaten.
Die Präsidentschaftswahl werde entscheiden, ob die Türkei den Weg zurückfinde zu einer parlamentarischen Demokratie oder den Kurs in Richtung einer Autokratie unter Führung Erdogans fortsetze, sagt Copur. Einen Stimmungswandel in Richtung Machtwechsel, wie er in der Türkei zu beobachten sei, könne er in Deutschland und in NRW nicht so stark erkennen, meint Copur. Während dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu in der Türkei eine beispiellose Aufholjagd gelang, sieht der Politikwissenschaftler dafür an Rhein und Ruhr wenig Anzeichen. Er gehe davon aus, dass Präsident Erdogan in NRW und vor allem im Ruhrgebiet nach wie von hohe Zustimmungswerte erreicht. Das Revier sei auch deshalb eine Erdogan-Hochburg, weil hier „überproportional viele bildungsferne AKP-Anhänger aus der Schwarzmeer-Region und aus Anatolien“ lebten und diese Regionen ebenfalls zu den AKP-Hochburgen in der Türkei zählen.
Auch viele der Jungen suchen Halt beim "großen und starken Führer"
Auch die jüngere Generation sei eher Erdogan verbunden. „Sie machen Erfahrungen von Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und suchen Halt beim großen und starken Führer wie Erdogan.“ Dessen Propaganda erreiche durch die regierungstreuen türkischen Medien die Familien auch hierzulande bis in ihre Wohnzimmer. „Es ist tragisch, dass so viele junge Menschen in einem freiheitlich-demokratischen Land einen Autokraten wählen“, sagt Copur. Aber dies sei nicht allein ein türkisches Phänomen. „Viele Migranten konservieren im Ausland ihre traditionellen Werte.“