Ahaus. Nach dem Atomausstieg muss der Atommüll viele Jahrzehnte mit hohem Aufwand in Zwischenlagern aufbewahrt werden. Zum Beispiel in Ahaus in NRW.
Mächtig ragt der massive Metallbehälter vor dem Besucher auf. Sechs Meter hoch, 120 Tonnen schwer. Näher als etwa zehn Meter darf man dem blauen Koloss ohne Schutzmaßnahmen nicht kommen: „Kontrollbereich – Vorsicht Strahlung“, warnt ein Schild. Denn darin befinden sich die strahlenden Hinterlassenschaften des Atomzeitalters, abgebrannte Brennelemente aus Kernkraftwerken und Forschungsreaktoren, die sicher gelagert werden müssen – für eine Million Jahre.
„Bleiben Sie stehen, überschreiten sie nicht die Absperrkette“, warnt der Sicherheitsingenieur. Wenn man den Behälter berühren dürfte, würde man bemerken, dass die gesamte Stahltonne Wärme ausstrahlt – sie stammt von der Strahlung, die von den Brennelementen im Inneren ausgeht.
Insgesamt mehr als 300 dieser blauen und gelben Atombehälter stehen in dem festungsartig gesicherten Zwischenlager Ahaus in der 200 Meter langen und fast 40 Meter breiten Halle. Sie kommen aus den Kraftwerken Neckarwestheim und Gundremmigen sowie aus Hamm-Uentrop und dem DDR-Forschungsreaktor Dresden-Rossendorf. Drei Fachleute in blauen Jacken schieben ein Strahlenmessgerät auf einem Rollwagen durch die Halle. Das Licht zeigt grün.
Platz für hunderte weitere Castor-Behälter
Platz ist hier für hunderte weitere Castor-Behälter. Und es ist absehbar, dass in naher Zukunft noch mehr strahlender Abfall in dem Lager nahe der kleinen Stadt im äußersten Nordwesten von Nordrhein-Westfalen angeliefert wird. Das Ende der Atomenergie in Deutschland, das mit der Abschaltung der letzten drei Kraftwerke am 15. April 2023 besiegelt wurde, bedeutet nicht das Ende der Atomprobleme. In Ahaus lässt sich das besichtigen.
Als hier die ersten sechs Castor-Behälter im März 1998 per Zug angeliefert wurden, gab es einen Riesenkrawall. Mit Polizeihubschraubern, angriffsbereiten Autonomen, besorgten Ahauser Bürgern und Anti-AKW-Aktivisten, mit einsatzerprobten Berliner Großstadtpolizisten, Gleisblockaden, Leuchtraketen und Wasserwerfern - und die Toten Hosen spielten abends gratis. Das ganz große Demo-Programm. Verhindern konnten sie Ahaus nicht. Im Gegenzug erhielt die Stadt „Strukturhilfezahlungen“, die ein neues Wellenhallenbad, eine Eishockeyhalle und eine schicke Fußgängerzone ermöglichten. Immer noch sponsort der Betreiber den Fußballverein Eintracht Ahaus. Das mag über die Jahre die Wogen geglättet haben.
Betriebsgenehmigung läuft nach 40 Jahren ab
„Wir haben zu der Bürgerinitiative ein entspanntes und professionelles Verhältnis“, sagt Burghard Rosen, Sprecher der bundeseigenen Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ) mit Sitz in Essen. Die BGZ ist verantwortlich für die „zuverlässige Zwischenlagerung“ atomarer Abfälle in Deutschland mit insgesamt 16 Standorten, einer davon ist Ahaus. Die Wut sei abgekühlt. Nur noch alle paar Wochen versammelten sich ein gutes Dutzend Demonstranten bei einem „Sonntagsspaziergang“ vor dem massiven Eisentor des Lagers. Seit zig Jahren seien es dieselben wackeren Anti-Atom-Streiter.
Dass sie bald das Ende des Zwischenlagers bejubeln können, ist allerdings nicht mehr als ein frommer Wunsch. Zwar läuft die Genehmigung für alle Zwischenlager nach 40 Jahren bald ab. Das bedeutet, in Ahaus müsste der Betrieb spätestens 2036 eingestellt werden, in Gorleben schon 2034, bei den anderen Lagern endet sie in den 2040er-Jahren - eigentlich. „Das ist völlig unrealistisch, denn bis dahin haben wir in Deutschland noch kein Endlager“, sagt Rosen.
Kein Endlager in Sicht
Das Problem: Ein Endlager für hoch radioaktive Stoffe in tiefen geologischen Schichten wird keinesfalls wie ursprünglich geplant 2050 in Betrieb gehen. Nach dem Aus für Gorleben ist bisher noch nicht einmal ein geeigneter Standort gefunden. Wann ein Endlager betriebsbereit ist und die Einlagerung der Castoren beginnen könnte, ist völlig offen, meint Rosen. Vielleicht 2080? Vielleicht 2090, oder erst im Jahr 2100? Und dann müssten rund 1900 ultraschwere Castoren mit abgebrannten Brennelementen noch aus allen Zwischenlagern unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in das zentrale Endlager transportiert werden – eine Aufgabe für Generationen.
Da die Zwischenlager daher noch viele Jahrzehnte benötigt werden, müssen die Betriebsgenehmigungen erneuert werden. Das ist kein einfacher Verwaltungsvorgang, sondern erfordert eine strenge wissenschaftliche und technische Überprüfung der Sicherheit. Können die Behälter noch Jahrzehnte unbeschadet in den Hallen stehen bleiben? Dazu hat die BGZ bereits ein umfangreiches Forschungsprogramm gestartet.
Forschung für verlängerte Zwischenlagerung
So müsse zum Beispiel untersucht werden, ob die Metalldichtungen der doppelten Castor-Deckel durch Strahlung und Hitze in Mitleidenschaft gezogen werden, erklärt Ahaus-Sprecher David Knollmann. Der Deckel des Castors muss das nukleare Material dauerhaft einschließen. Sensoren messen daher rund um die Uhr den Druck unterhalb des Deckels. Fällt er ab, zeigt dies eine Undichtigkeit an und Alarm wird ausgelöst. Das Aufschweißen eines neuen Deckels werde von den Spezialisten in Ahaus ständig geübt. „Bisher hatten wir in über 30 Jahren Betrieb noch keinen Reparaturfall“, sagt Knollmann.
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Ein zweiter Fokus liegt auf den Brennstäben im Inneren der Castoren. In Zusammenarbeit mit Experten aus Schweden werden in speziellen strahlensicheren Laboren, sogenannte heiße Zellen, Teile von bestrahlten Brennelementen aus deutschen Kernkraftwerken untersucht. Die Forscher simulieren dort, wie sich das Material unter verschiedenen Temperaturbedingungen verhält. Dies lasse Rückschlüsse über das Langzeitverhalten von Brennelementen zu, erklärt die BGZ.
Abfälle aus München, Berlin, Mainz und Jülich eingeplant
Fest steht indes, dass in naher Zukunft in Ahaus weitere Castor-Behälter ankommen werden. Es geht um hoch radioaktive Abfälle aus den Forschungsreaktoren in Garching bei München, aus Mainz und Berlin. Auch für die 152 Behälter, die noch am Standort des ehemaligen Forschungsreaktors in Jülich bei Aachen stehen, ist in Ahaus ein Platz vorgesehen. Wegen eines fehlenden Nachweises der Erdbebensicherheit sollte das Zwischenlager in Jülich eigentlich „unverzüglich“ geräumt werden, verfügte das NRW-Wirtschaftsministerium als zuständige Aufsichtsbehörde. Das war 2014 – seither ist nichts passiert. Die nötigen Transportgenehmigungen stehen bislang noch aus.
Neue Atomtransporte quer durch die Republik nach Ahaus sind jedoch nicht nur eine immense logistische Herausforderung, sondern bedeuten neben erwartbaren Protesten ebenso politischen Zündstoff – wenn etwa Bayern, das ein Endlager im Freistaat kategorisch ausschließt, seinen Müll in NRW loswerden will.
Das Erbe des Atomzeitalters
„Für die nachfolgenden Generationen ist das Kapitel Atomenergie mit dem 15. April noch nicht geschlossen“, sagte Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base), kürzlich in Berlin anlässlich des Atomausstiegs. „Über viele Jahrzehnte müssen nun die offenen Fragen gelöst werden, die während des Atomzeitalters in Deutschland nicht beantwortet worden sind.“ Diesen Eindruck haben die Bürger und Bürgerinnen in Ahaus schon lange. Sie befürchten, dass „ihr“ Zwischenlager zu einem „heimlichen Endlager“ wird.
>>>> Europa sucht nach einem Endlager:
Etwa 110 Reaktoren sind in Europa in Betrieb. Nach dem deutschen Atomausstieg produzieren noch in zwölf der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Kernkraftwerke Strom. Die EU hat sich darauf geeinigt, dass jeder Mitgliedstaat für die von ihm produzierten radioaktiven Anfälle selbst verantwortlich ist. Ein „Atomtourismus“ soll damit ausgeschlossen werden.
Ein Endlager für hoch radioaktive Stoffe existiert in der EU bislang nicht. In Frankreich könnte in dem kleinen Ort Bure bei Nancy, etwa 200 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, das erste Endlager für hoch radioaktive Stoffe in Europa entstehen. Bisher lagern die Atomabfälle im nordfranzösischen La Hague.
In Deutschland soll das Endlager Konrad in Salzgitter für schwach- und mittelradioaktive Abfälle 2027 in Betrieb gehen. Für den hoch radioaktiven Abfall wird derzeit nach einem geeigneten Endlager gesucht. Mit einer Standortfestlegung sei laut Unterlagen der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) nicht vor 2046 zu rechnen.