Essen. NRW-Kommunen über Zwischenfälle in belgischen Atomkraftwerken besorgt. NRW-Umweltminister Remmel fordert die rasche Abschaltung der alten Meiler.

Die Pannenserie in den belgischen Atomkraftwerken reißt nicht ab. Seit Wochen werden die Reaktoren in Tihange bei Lüttich und Doel nahe Antwerpen im Unglückstakt an- und ausgeschaltet. Am Reaktor Tihange 1, nur rund 70 Kilometer südwestlich von Aachen gelegen, kam es zu einer Schnellabschaltung, weil eine Schalttafel Feuer gefangen hatte. Doel ging kurzfristig vom Netz, weil eine Heißwasserleitung leckte. Zuletzt wurde Tihange 2 außerplanmäßig gedrosselt, weil ein Wasserleck bemerkt wurde.

Seit Jahren machen die Kraftwerke Probleme. Mal brach ein Brand aus, mal explodierte ein Transformator, dann wurde Tausende feiner Risse in den Reaktordruckbehältern festgestellt. Nach einer Zwangspause von knapp zwei Jahren gingen die gut 40 Jahre alten Kraftwerke zum Jahreswechsel schließlich wieder ans Netz.

NRW wäre betroffen

Mit jedem Störfall wachsen die Sorgen. Auch wenn meist von Pannen im „nicht-nuklearen Bereich“ die Rede ist, trägt dies nicht zur Beruhigung bei. Auch in Fukushima waren Systemausfälle im Umfeld des Reaktors Auslöser der Kernschmelze. Die NRW-Landesregierung fordert daher seit Jahren die Abschaltung der Meiler. „Die Bröckel-Reaktoren aus Belgien gefährden Menschen in gleich drei EU-Ländern direkt“, sagt NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne).

Konkrete Simulationen machten deutlich, dass im Falle eines schweren Atomunfalls weite Teile Nordrhein-Westfalens durch radioaktiven Niederschlag betroffen wären. Bei Westwinden, wie sie meist vorherrschen, könne auch das bevölkerungsreiche Ruhrgebiet von einer radioaktiven Wolke erreicht werden, so Remmel. Auch Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) forderte wiederholt das Aus für die anfälligen Atomanlagen: „Die gefährlichen Reaktoren müssen vom Netz“, sagte er. Die von der belgischen Regierung genehmigte Laufzeitverlängerung sei „unverantwortlich“.

Verteilung von Jodtabletten

Besonders die Kommunen in Grenznähe sind alarmiert. Die Stadtverwaltung Aachen ließ kurz vor dem Wiederanfahren der Meiler ihren Krisenstab im Dezember einen atomaren Ernstfall durchspielen. Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) will zudem die 300.000 Jodtabletten vorsorglich an Schulen und Kindergärten verteilen lassen, da sie einen gewissen Schutz gegen die Aufnahme radioaktiver Isotope bieten.

Derzeit lagern die Tabletten zentral in der Apotheke des Aachener Uniklinikums „auf einer Europalette“, wie es heißt. Von dort müssten sie im Ernstfall abgeholt und an Personen unter 45 Jahre verteilt werden. Im Umweltausschuss der Stadt gab Feuerwehrchef Jürgen Wolff kürzlich zu bedenken, eine Verteilung sei „in 24 Stunden nicht machbar, möglicherweise auch nicht in 32 oder 48 Stunden“.

Aachen installiert mehr Sirenen

Im Laufe des Jahres soll das Aachener Sirenen-Netz ausgebaut werden, um mindestens 70 Prozent der Bewohner zu erreichen. „Aber was kommt eigentlich nach der Verteilung der Jodtabletten?“, wollte laut Aachener Zeitung ein Zuhörer der Sitzung wissen. So genau weiß das niemand. Jedenfalls sollen die Bürger in einer Zone von 100 Kilometern rund um den Unglücksort in ihren Wohnungen bleiben und die Tabletten schlucken, empfiehlt die Bundesstrahlenschutzkommission. Aachen, Maastricht (NL) und weitere Kommunen prüfen nun rechtliche Schritte gegen den Betreiber der Kraftwerke.

Als das ganze Ausmaß der technischen Probleme sichtbar wurde, verfassten die NRW-Minister Remmel und Duin in dringlichem Ton bereits 2012 einen Brief an die Bundesregierung, in dem sie die potenzielle Gefährdung der Menschen in NRW aufzeigten. „Innerhalb weniger Stunden“ könne die freigesetzte Radioaktivität NRW überqueren und dabei „enorme und langfristige“ Folgen haben. Die Bundesregierung müsse sich für eine Abschaltung der Meiler einsetzen. Doch Energiepolitik ist Sache der Nationalstaaten, Belgien verlängerte sogar die Laufzeit der beiden Atomkraftwerke bis 2025.

Der bislang gefährlichste belgische Störfall ereignete sich 2002 in Tihange. Wegen eines versehentlich geöffneten Ventils kam es in Block 2 zum Druckabfall im Kühlkreislauf. Die Sicherheitssysteme funktionierten – und verhinderten eine mögliche Kernschmelze.