Essen. „Europa in einer unbequemen Welt“: Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel diskutiert beim Politischen Forum Ruhr über die Beziehungen zu den USA.
Erleichterung über das unerwartet schlechte Abschneiden des Trump-Lagers bei den Zwischenwahlen in den USA, Befürchtungen angesichts der Frage, ob der politische Brandstifter womöglich erneut US-Präsident werden kann. In dieser Stimmungslage diskutierte Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) beim Politischen Forum Ruhr auf Einladung des Vorsitzenden Dr. Stephan Holthoff-Pförtner im großen Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen mit Experten über den Ausgang der US-Midterms.
Beim Thema des Abends „Europa in einer unbequemen Welt“ konnte es angesichts des Ukraine-Kriegs, des schwierigen bis feindseligen Verhältnisses zu China und Russland sowie der Energie- und Wirtschaftskrise nicht beim Blick über den Atlantik bleiben.
Zahlreiche Krisen zu gleicher Zeit
„Ich glaube nicht, dass unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg schon einmal vor so dramatischen Herausforderungen stand wie jetzt. Und alle Krisen müssen wir gleichzeitig meistern“, sagte Gabriel zum Beginn seines Vortrags und setzte damit den Ton der Debatte.
Ihm zur Seite auf dem Podium saßen Dirk Hautkapp (58), seit August 2011 US-Korrespondent der FUNKE-Mediengruppe, zu der auch diese Zeitung gehört, sowie Pauline A. Kao, Generalkonsulin der Vereinigten Staaten in NRW und der Journalist und Außenpolitikexperte Thomas Kleine-Brockhoff, Vize-Präsident des German Marshall Fund of the United States, eine unabhängig US-Stiftung zur Förderung der transatlantischen Beziehung.
Das Ende der alten Weltordnung
„Die USA will nicht mehr die bisherige Rolle als Weltpolizist und globale Ordnungsmacht ausfüllen“, führte Gabriel, seit drei Jahren Vorsitzender der einflussreichen Atlantik-Brücke in seinem frei vorgetragenen Redebeitrag aus. Die Vereinigten Staaten schauten in Richtung China, Indien und in den pazifischen Raum, wo die wirtschaftliche und militärische Macht heranwächst. „Die Dominanz des demokratischen Westens ist unter Druck“, so der Ex-Außenminister. „Die alte Weltordnung ist vorbei, doch die neue ist noch nicht da.“
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Dieses Vakuum habe Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine versucht auszunutzen. „Das war nicht die Zeitenwende, sondern eine Folge der Zeitenwende“, meinte Gabriel. Europa müsse daraus die richtigen Schlüsse ziehen, einiger und stärker werden, um auch in Zukunft eine Rolle in der Welt spielen zu können. „Wir werden Risiken tragen müssen“, mahnte Gabriel. „Das erfordert eine andere Haltung: Wir müssen die Welt in den Blick nehmen.“
Die Rückkehr der „Trumpisten“
Auch Dirk Hautkapp warnte davor, sich in Zukunft zu sehr auf die demokratische Macht der USA zu verlassen. „Das Ergebnis der Wahl könnte beruhigend wirken“, sagte der Journalist. „Die Frage ist nur: wie lange?“ Die Tatsache, dass die Republikaner das Repräsentantenhaus erobert haben, verheiße nichts Gutes. „Der Biden-Regierung droht der politische Stillstand. Die Republikaner werden alles daransetzen, die Politik des US-Präsidenten zu blockieren.“
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In den kommenden zwei Jahren würden sie versuchen, entweder eine erneute Kandidatur von Donald Trump vorzubereiten oder einen Kandidaten von ähnlichem politischen Kaliber aufzubauen. „Das wird auch die Ukraine zu spüren bekommen“, sagte Hautkapp. Für Biden dürfte es schwerer werden, das Land im Krieg wie bisher zu unterstützen. Diese Lücke müssten womöglich die Europäer stärker füllen als bisher, so Hautkapp, der den verheerenden Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 aus nächster Nähe beobachtet hatte.
Ein Angriff auf die Demokratie
Thomas Kleine-Brockhoff lenkte den Blick auf die positiven Folgen der Krise: „Wir haben gelernt, dass Russland nicht so mächtig ist, wie wir gedacht haben.“ Zudem sei Europa zum ersten Mal an einem Punkt in der Geschichte angekommen, wo es selbst verteidigungsfähig werden könne. „Die USA verabschieden sich keineswegs von Europa, sondern unterstützen uns im Konflikt mit Russland“, sagte er.
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Die US-Generalkonsulin Pauline A. Kao pflichtete ihm bei: „Wir lernen in diesem Krieg, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen sind“, sagte die Diplomatin. „Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Demokratie, auf unsere Werte und Würde“, sagte Kao. Allen sei klar: „Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren.“
>>>> Das Politische Forum Ruhr
Seit über 30 Jahren gehört das Politische Forum Ruhr zu den wichtigsten Debattenforen im Ruhrgebiet. Die aus einer Privatinitiative des Essener Rechtsanwaltes Dr. Stephan Holthoff-Pförtner – bis 2022 NRW-Europaminister und bis heute Vorsitzender des Politischen Forums – hervorgegangene Kongressreihe zählt zu den gesellschaftspolitischen Veranstaltungsreihen mit der nach eigenen Angaben größten Publikumsresonanz in Deutschland.