Essen/Bochum. Der Mangel an Kita-Plätzen ist in NRW dramatisch. Das zeigt die neue Bertelsmann-Studie. Was Eltern und Experten jetzt fordern.
Große Sorge bei Eltern, Verbänden und Experten in NRW: Die am Donnerstag veröffentlichte Bertelsmann-Studie über den hohen Mangel an Kitaplätzen und Kita-Personal sorgt für Kritik an der Landesregierung. Trotz des massiven Ausbaus der Kapazitäten in den vergangenen Jahren gibt es der Studie zufolge noch immer zu wenig Plätze, um die Nachfrage zu decken.
Laut Studie fehlen 2023 in NRW rund 102.000 Kitaplätze, womit im bevölkerungsreichsten Bundesland der deutschlandweit größte Mangel herrsche. Bundesweit fehlten in Deutschland rund 384.000 Plätze. Um die Nachfrage nach Kitaplätzen zu decken, müssten in NRW zusätzlich 24.400 Fachkräfte eingestellt werden, sagen die Autoren des „Ländermonitor Frühkindliche Bildung“. Die zusätzlichen Personalkosten beliefen sich auf rund 1,1 Milliarden Euro jährlich. „Das ist ein absolutes Versagen der Politik“, sagt Studienautorin und Expertin für Frühkindliche Bildung, Kathrin Bock-Famulla, zum Gesamtbefund.
„Die Berechnungen machen die absolut desolate Bildungssituation in NRW mehr als deutlich, und eine Verbesserung ist nicht in Sicht“, sagt auch Anne Deimel, Vize-Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) in NRW. Seit Jahren fordert der VBE eine große Personaloffensive.
Kita-Zweckverband und AWO fordern finanzielle Hilfen vom Land
„Dem Fachkräftemangel müssen wir mit Entlastung des Personals begegnen“, sagt Muna Hischma von der AWO Westliches Westfalen. Der Verband vereint aktuell 335 Kindertageseinrichtungen. Ausbildungsplätze müssten ausgebaut und eine ausbildungsbegleitende Vergütung sichergestellt werden. Um die pädagogischen Fachkräfte zu entlasten, müsse weiteres Personal etwa aus Hauswirtschaft oder Verwaltung miteinbezogen und finanziert werden.
Der Kita-Zweckverband fordert ebenfalls Investitionen in die Ausbildung und eine Anpassung der Personalverordnung, „um Quereinstiege in das Berufsfeld zu vereinfachen“, sagt Sprecherin Lina Strafer. Der Kita Zweckverband im Bistum Essen ist mit 267 Einrichtungen einer der deutschlandweit größten freien Träger von Kindertageseinrichtungen. Laut Strafer müsse die Politik zudem in den Ausbau von Betreuungsplätzen investieren und den Trägern eine auskömmliche Finanzierung ermöglichen.
Der Städtetag NRW fordert mit Blick auf die Studie ebenfalls weitere finanzielle Hilfen. Geschäftsführer Helmut Dedy verweist auf die rund 40 Milliarden Euro, die im Jahr 2020 bundesweit für die Kindertagesbetreuung aufgewendet wurden. „Wir sehen aber, dass das nicht reicht“, so Dedy. Bund und Länder müssten hier dauerhaft mehr beitragen. Die Gewerkschaft Verdi ruft unterdessen nach einer schnellen Reform des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz), „insbesondere in den zentralen Punkten Personalschlüssel und Gruppengröße“, betont Andrea Becker von Verdi NRW.
NRW-SPD: Land steuert auf „Bildungskatastrophe“ zu
Alarmiert äußert sich die Opposition im Landtag. Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD, warnt, dass das Land im Bereich der frühkindlichen Bildung auf eine „Bildungskatastrophe“ zusteuere. Die Refinanzierung der Mietkosten für die Träger sei unzureichend. Zudem brauche es in Zeiten explodierender Baukosten entsprechende Zuschüsse für den Kita-Ausbau.
Auf Anfrage dieser Redaktion weist NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) darauf hin, dass das Ministerium bereits eine Koordinierungsstelle zum Fachkräfteausbau in Kitas eingerichtet habe. Außerdem sei das Kita-Helfer-Programm fortgeschrieben, eine Verstetigung des Programms werde angestrebt.
Bochumer Mutter kämpft um Kita-Platz
Als Helena geboren wird, meldet Renate Spallek ihre Tochter direkt für einen Kita-Platz an. „Das muss man heutzutage so machen, sonst ist man zu spät“, erklärt Spallek. Trotz der frühen Anmeldung bangt die alleinerziehende Mutter drei Jahre um einen Platz, klappert verschiedene Kitas in der Umgebung ab. Mehrfach ruft sie bei der Stadt Bochum an, lange Zeit tut sich nichts. Bis sie drei Jahre alt ist, besucht Helena eine Tagesmutter. Spallek: „Der Sprung hin zum Kindergartenplatz ist sehr schwierig.“
So wie ihr geht es vielen Müttern und Vätern in NRW. „Die größte Hürde auf dem Weg zu genügend Plätzen sowie kindgerechten Personalschlüsseln in den Kitas bleibt der Fachkräftemangel“, sagt Bock-Famulla.
Rechtsanspruch kaum umsetzbar
Laut der Studie hat sich in NRW zwischen 2014 und 2021 die Zahl der unter Dreijährigen, die eine Kita oder Kindertagespflege besuchen, um 48.167 Kinder auf 152.948 erhöht. Damit ist die Teilhabequote dieser Altersgruppe von 24 Prozent auf 30 Prozent gestiegen – deutschlandweit die größte Steigerung. Bei den Drei- bis Unter-Sechsjährigen beträgt der Wert 91 Prozent (bundesweit: 92 Prozent). Zudem nutzten Eltern in NRW längere Betreuungszeiten als im Bundesdurchschnitt.
Renate Spallek hat für ihre Tochter seit dem 1. August einen „Überbelegungs-Platz“ in einer städtischen Bochumer Kita bekommen. „Eigentlich war die Kita schon voll, aber es gab noch drei Plätze, die sich überbelegen ließen“, erzählt sie. Zwar sei die Kita nicht ihre Wunsch-Kindertagesstätte gewesen, auch, weil sie für die Mutter nicht so gut erreichbar ist, „aber im Endeffekt ist man dankbar für alles, was man bekommt.“
Bochumer Mutter: „stehe unter massivem Zeitdruck“
Die einzig mögliche Betreuungszeit von 35 Stunden in der Woche macht der alleinerziehenden Mutter allerdings zu schaffen. Mit ihrer 35-Stunden-Stelle als Krankenschwester auf der Intensivstation der Essener Uniklinik stehe sie täglich unter „massivem Zeitdruck“. Denn Spalleks Tag ist bis auf die letzte Stunde getaktet. Um sechs Uhr geht ihr Wecker, eine Stunde später öffnet die Kita. Anschließend fährt sie zur Arbeit und holt ihre Tochter pünktlich um 14.30 Uhr wieder ab. „Ich hätte mir eine Betreuungszeit von 45 Stunden gewünscht, um nach der Arbeit für ein Stündchen Einkäufe oder Arztbesuche zu erledigen. Das ist nicht machbar.“ Ihren Alltag beeinflusse das enorm, sagt Spallek, alle Besorgungen könne sie nur mit Helena gemeinsam machen.
Während der langen Suche nach einem Kita-Platz hat Renate Spallek schon häufig überlegt, einen Anwalt einzuschalten, um ihren Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz geltend zu machen. Doch das ist hierzulande gar nicht so einfach. Laut Bertelsmann-Studie kann das Land den bundesgesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung auch bis 2023 nicht für jedes Kind, dessen Eltern einen Bedarf haben, einlösen. „Das ist in doppelter Hinsicht untragbar“, sagt Kathrin Bock-Famulla. „Die Eltern werden bei der Betreuung ihrer Kinder nicht unterstützt, während Kindern ihr Recht auf professionelle Begleitung in ihrer frühen Bildung vorenthalten wird.“ Seit 2013 gilt in Deutschland der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, für Kinder ab drei Jahren besteht er schon seit 1996.
Höherer Personalschlüssel für NRW
Um die Kinderbetreuung zu verbessern, wirbt die Bertelsmann-Stiftung für einen höheren Personalschlüssel bei Kindern unter drei Jahren. In NRW werden immer noch 72 Prozent der Kita-Kinder in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen. Damit liegt das Land über dem bundesweiten Durchschnitt von 68 Prozent.
Für ein kindgerechtes Betreuungsverhältnis empfiehlt die Stiftung, dass eine Vollzeitkraft rein rechnerisch für höchstens drei ganztags betreute unter Dreijährige in Krippengruppen oder 7,5 ganztags betreute Ab-Dreijährige in Kindergartengruppen zuständig sein soll. Um dieser Empfehlung zu entsprechen, müssten in NRW rund 65.100 Fachkräfte zusätzlich beschäftigt werden.