Essen. Laut einem Personalvermittler werden Arbeitskräfte nicht mehr gesucht, sondern „mundgerecht“ umworben. Arbeitskräfte setzen Ansprüche durch.
Fachkräftemangel gehört bei Arne Kaiser zum Geschäft. Seit zehn Jahren arbeitet der gebürtige Sauerländer für den großen Personalvermittler Hapeko, er sucht und vermittelt also für Unternehmen Fachkräfte. Und der 37-Jährige spürt deutlich, dass sich etwas am Arbeitsmarkt gedreht hat.
„Wenn ich für ein Unternehmen einen Bilanzbuchhalter suche, hätte ich dafür vor zehn Jahren ausschließlich unsere Datenbank oder Stellenanzeigen genutzt und wäre erfolgreich gewesen. Heute muss ich viel stärker in die Direktansprache gehen, über Online-Netzwerke und im klassischen Headhunt“, sagt Kaiser. Es gebe einen regelrechten Run auf bestimmte kaufmännische Berufe. Arbeitskräfte würden nicht mehr gesucht, sondern „mundgerecht“ umworben. Und die Angesprochenen stellten Ansprüche und setzten sich durch.
In mehr als 40 Prozent der Berufe herrscht inzwischen ein Engpass
Lange herrschte am Arbeitsmarkt das Bild vor, dass sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die besten Leute für ihre Unternehmen herauspicken konnten. In immer mehr Branchen ändert sich das: Der Mangel an Fach- und Arbeitskräften ist von wenigen Branchen ausgehend inzwischen in die Breite gegangen. Das Bundeswirtschaftsministerium geht davon aus, dass bereits mehr als 40 Prozent aller Berufsgattungen sogenannte Engpassberufe sind. In diesem Berufsfeldern wird es immer schwieriger, geeignetes Personal zu finden.
Firmenchef: „Das Handwerk muss sich verändern“
Herr Otremba, Sie werben für Ihren Malerbetrieb in Essen um junge Nachwuchskräfte, wie man das von hippen Start-Ups kennt - mit ansprechenden Videos und Fotos vor allem in sozialen Medien. Warum?
Daniel Otremba: Die Idee dazu ist vor zwei Jahren entstanden. Damals habe ich meinen ersten Mitarbeiter eingestellt. Der ist sehr kreativ und gemeinsam wollten wir zeigen, wie cool unser Job eigentlich ist und dass wir anders sind als man das so vom Handwerk vielleicht glaubt. Das Handwerk steckt oft in alten Denkmustern und Führungsstilen fest. Wir sind transparent, das heißt, dass jeder Mitarbeiter bei uns über alle Vorhaben, Ziele und Zahlen Bescheid weiß. Man vertraut sich damit gegenseitig. Wir setzen außerdem neue Techniken und moderne Maschinen ein. Und bei uns muss kein Azubi am Anfang erstmal nur die Drecksarbeit übernehmen. Wir stellen ihnen Schultickets und animieren sie zu Sparplänen.
Wie kommt das bei jungen Leute an?
Wir merken jedenfalls keinen Arbeitskräftemangel. Wir haben drei bis vier Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz und zwei bis vier Bewerbungen pro Monat von Gesellen. Die meisten Bewerber lernen uns über Instagram kennen. Wir schicken ihnen Videos, in denen wir uns vorstellen, dann müssen sie einen kleinen Test machen. Heute gehören elf Leute zu unserem Betrieb, darunter eine Mediengestalterin.
Was muss sich also im Handwerk ändern?
Ich kann nur fürs Malerhandwerk sprechen. Wir haben viele gute Firmen, aber wenn wir darüber reden, dass keine jungen Leute ins Handwerk wollen, muss man eben gucken, wie man auf sich aufmerksam macht. Und man muss überlegen, was junge Leute erwarten. Wer jetzt nicht umdenkt, wird in den nächsten Jahren nicht mehr am Markt bestehen können.
Klassische Lehrberufen sind künftig besonders betroffen: Es gibt Prognosen, nach denen Betrieben bis 2040 ein Viertel weniger Arbeitskräfte mit Ausbildung zur Verfügung steht. Denn eine große Anzahl an Babyboomern, die vielfach über eine Ausbildung in den Arbeitsmarkt gekommen sind, wird von weniger Nachwuchskräften ersetzt, die vermehrt studiert haben.
Moderne Führungsstile und Entwicklungsmöglichkeiten sind gefragt
Was heißt das? Führt der Mangel an Arbeitskräften dazu, dass sich Machtverhältnisse zumindest in bestimmten Branchen verschieben? Dass Beschäftigte zunehmend vorgeben können, unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen?
Einen Teil der Antwort liefert eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Die Fachleute haben die Lohnentwicklung zwischen den Jahren 2013 und 2019 beobachtet. Während die Löhne insgesamt um durchschnittlich 2,4 Prozent jährlich gestiegen sind, wuchsen sie in Engpassberufen um drei Prozent. Gerade Hochqualifizierte konnten profitieren.
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Höhere Löhne seien aber nur ein Beispiel, wie sich das Werben der Unternehmen um Arbeitskräfte ausdrücke, sagt IW-Arbeitsmarktexperte Alexander Burstedde. Heute gehe es vermehrt um Fragen des Betriebsklimas, um Image und die Sicherheit von Arbeitsplätzen. „Man spürt deutlich, dass Unternehmen versuchen attraktiver zu werden. Es wird künftig nicht mehr reichen, tolle Produkte zu haben. Auch als Arbeitgeber muss man sich von der Konkurrenz abheben. Sonst wird es mit der Fachkräftesicherung sehr schwer.“
Dass Fachkräfte in der Breite Maximalforderungen durchsetzen können, halten Fachleute wie Burstedde zwar für eher anekdotisch unwahrscheinlich. Doch Arbeitnehmende gewinnen in Engpass-Branchen Land: „Wir stecken mitten in einem Bewerbermarkt“, so Burstedde.
Gewerkschaftssekretär: Pflege wird selbstbewusster
Dass Mangel allein nicht immer ausreicht, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, zeigt die Pflege. Jan von Hagen vertritt seit 2016 bei Verdi NRW die Interessen von Krankenhausbeschäftigten und erlebt seit Jahren die Auswirkungen der Personalnot insbesondere in der Pflege. Zwar erlebe auch er Veränderungen: Pflegekräfte seien selbstbewusster geworden, viele wüssten um ihren Wert. Erst vor wenigen Tagen haben Beschäftigte der Unikliniken ihren Arbeitgeberinnen ein Ultimatum gestellt, mit dem sie Entlastungen durchsetzen wollen. „Das wäre vor wenigen Jahren nicht vorstellbar gewesen. Die Bereitschaft, Auseinandersetzungen auszutragen, ist gestiegen.“
Doch habe diese „leicht gestiegene Macht“ bislang nicht dazu geführt, die Arbeitsbedingungen in der Pflege grundlegend zu verbessern. Es gebe Fachkräfte, die über den Umweg der Zeitarbeitsfirmen versuchten, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für sich herauszuschlagen – doch die Gruppe sei klein. Auch zögen Kliniken immer häufiger tariflich geregelte Lohnstufensteigerungen für Beschäftigte vor, um sie zu halten – doch das seien Einzelfälle.
Helferjobs nicht von Engpässen betroffen
Nach Einschätzung des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit Sitz in Nürnberg gibt es keinen flächendeckenden Arbeitskräftemangel. Er beziehe sich auf bestimmte Berufe und sei regional durchaus unterschiedlich. Ein Bewerber-Markt werde sich auch künftig nicht überall einstellen, sagt Alexander Kubis vom IAB. Nach wie vor sei die Arbeitslosenquote zum Beispiel unter Geringqualifizierten viel zu hoch, so dass es Betriebe hier deutlich leichter haben, geeignetes Personal zu finden.
Für den großen Wurf brauche es andere gesetzliche Rahmenbedingungen, damit bessere Arbeitsbedingungen auch refinanziert werden. „Es braucht den Gesetzgeber, der auf den Druck der Arbeitskräfte reagieren muss“, sagt von Hagen. Sieht er die Chance dazu? „Ich würde sagen, dass die Chancen lange nicht so gut standen wie jetzt.“
Gewerkschaftschefin: Verhandlungsgeschick des Einzelnen löst Notstände nicht
Auch Anja Weber, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in NRW, sieht im Fachkräftemangel durchaus die Chance, dass sich Grundlegendes in bestimmten Branchen ändere. „Aber das geht nur über kollektive Lösungen. Man löst Notstände nicht über das Verhandlungsgeschick des Einzelnen“, verteidigt Weber die Position der Gewerkschaften.
Sie verweist auf das Hotel- und Gaststättengewerbe, dem durch die Pandemie viele Arbeitskräfte verloren gegangen sind. Im Kampf um Beschäftigte sorgt der jüngste Tarifabschluss nun für ein Plus von 28 Prozent beim Einstiegslohn. „Das ist für die Branche ein ordentlicher Sprung, der wieder Leute zurückholen könnte.“
Bei einzelnen Unternehmen gebe es sicherlich einen Mentalitätswechsel, die Arbeitsbedingungen zu verbessern - aber nicht kollektiv. „Wir haben in NRW 55.000 junge Menschen, die auf einen Ausbildungsplatz warten, immer mehr Unternehmen gehen aus der Tarifbindungen und auch sachgrundlose Befristungen haben immer noch Bestand.“ Weber wirbt für ein Miteinander von Betrieben und ihren Beschäftigten. „Wenn jeder an sich selber denkt, ist eben nicht an alle gedacht“, sagt sie. „Das müssen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer klar machen.“