Duisburg/Bochum. In kaum einem Beruf ist der Fachkräftemangel größer: Pflegeunternehmen setzen auf Profis, um Nachwuchs zu gewinnen. Eine Reform macht das möglich.

Katarzyna Kocaj steckte lange in einem Zwiespalt: Die 39-Jährige ist seit zwei Jahrzehnten in der Altenpflege beschäftigt. Zu ihrer Arbeit gehörte es zeitweise auch, sich neben der Pflege älterer Menschen auch um junge Leute zu kümmern, die ihre Ausbildung machten.

„Im Alltag ist die Anleitung der Auszubildenden aber nur schwer mit dem Tagesgeschäft zu verbinden“, sagt Kocaj. „Priorität hat die Versorgung der Menschen und wenn Personal ausfällt und man einspringen musste, dann fehlte die Zeit für die Anleitung eines Pflegeschülers.“ Das sei für keine Seite zufriedenstellend, gerade in einer von Fachkräftemangel so stark geprägten Branche. „Da muss Ausbildung einen hohen Stellenwert haben.“

Träger schafft neue Position für Ausbildungs-Profis

Katarzyna Kocaj von der AwoCura.
Katarzyna Kocaj von der AwoCura. © AWO | AWO

Seit 2019 kann sich die Fachfrau hauptamtlich um Pflegeazubis kümmern. Bei dem Duisburger Träger „AwoCura“ arbeitet Kocaj als „Ausbildungskoordinatorin“ – eine noch junge Position in der Welt der Pflege, in der Kocaj Dinge tun kann, für die lange Geld und Zeit fehlten: Strategien entwickeln, Strukturen aufbauen, in Schul-Workshops und bei Berufsmessen junge Interessierte anwerben und ein Netz aus Ansprechpersonen in den Seniorenheimen schaffen, die für die Praxisanleitung des Nachwuchs freigestellt sind.

Über 80 Azubis bildet die AwoCura aktuell aus, für Oktober meldet Kocaj nur zwei freie Stellen.

Folgen der Ausbildungsreform in der Pflege: Anleitung wird erstmals refinanziert

Möglich macht ihre Arbeit die noch neue Ausbildung in der Pflege: Über viele Jahre sind Alten- und Krankenpflegekräfte getrennt geschult worden. Seit 2020 gibt es die generalistische Ausbildung, in der sich junge Menschen erst im dritten Jahr für einen Bereich entscheiden. Teil der Reform war, dass die praktische Anleitung in einem Seniorenheim erstmals refinanziert wird. Träger konnten Stellen schaffen, die sich nur mit Ausbildung befassen.

„In den Betrieben spielt das Thema Ausbildung heute eine deutlich größere Rolle“, sagt Roland Weigel von der Arbeitgeberinitiative Ruhrgebietskonferenz Pflege. „Sie haben professionelle Strukturen aufgebaut und nehmen das Thema sehr ernst, weil sie wissen, dass Ausbildung eine Hauptsäule für die Bewältigung des Fachkräftemangels ist.“ Bei einem Ausbildungsgipfel will die Initiative im Oktober zeigen, was sich getan hat.

Zehn Prozent mehr Pflegeazubis in NRW

Anders als in anderen Branchen gelinge es der Pflege, Ausbildungsgänge gut zu besetzen, stellt Weigel schon jetzt fest. Statistisch lässt sich das zwar nicht belegen, weil die Arbeitsagentur in NRW offene Stellen in der schulisch geprägten Pflegeausbildung nicht erfasst.

Roland Weigel von der Ruhrgebietskonferenz Pflege.
Roland Weigel von der Ruhrgebietskonferenz Pflege. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Zahlen des Gesundheitsministeriums zeigen aber: 2021 haben knapp 17.500 junge Menschen ihre Ausbildung in der Pflege aufgenommen – zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der Fachkräftebedarf ist gewaltig: Laut Arbeitsagentur kommen in NRW auf rund 100 offene Stellen in der Pflege rein rechnerisch 83 arbeitslose Bewerberinnen und Bewerber. Nur in neun anderen Berufsfeldern ist die Lücke größer.

DIP-Studie: Abbrecherquote in der Pflege nicht höher als in anderen Branchen

Anders als oft kolportiert, sei der Anteil von Nachwuchskräfte, die ihre Ausbildung abbrechen, in der Pflege aber nicht nicht überdurchschnittlich hoch, sagt Helga Gessenich vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) in Köln. „Pflege leidet ein stückweit unter der falschen Darstellung, dass junge Menschen in Wellen aus dem Beruf fliehen würden, weil die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen so schlecht seien“, so Gessenich. Das sei mitnichten so. „Pflegende steigen nach der Ausbildung nicht aus dem Beruf aus, sondern ein.“ Pflege stehe sicher nicht schlechter dar als andere Branchen.

Das DIP hat Nachwuchskräfte befragt. Über 92 Prozent der jungen Leute, die noch vor der Reform ihre Ausbildung in der Altenpflege begonnen haben, wollen im Beruf bleiben. Ein Jahr nach ihrem Examen sind 82 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Wer geht, geht meist Richtung Uni. Wer bleibt, tut das vor allem wegen weicher Faktoren: ein gutes Team, eine angebotene Vollzeitstelle, gute Führungsstrukturen. Auch eine gute Einarbeitung, Zeit für Gespräche und Weiterbildung seien wichtige Bindungsfaktoren, so Gessenich.

Diakonie hat sich mit Kliniken zusammengeschlossen und wirbt mit Flexibilität

Die Diakonie Ruhr mit Sitz in Bochum hat noch einen anderen Weg gewählt: Der Bereich der Altenpflege hat nicht nur neue Profis für mehr Ausbildung angestellt, sondern sich auch mit zwei Klinikträgern zusammengetan und so ein großes Netzwerk an Ausbildungsstellen und Schulen geschaffen. Azubis können in den ersten zwei Jahren der generalistischen Ausbildung einfacher zwischen Krankenhaus und Altenpflege rotieren und im dritten Jahr problemloser ihren Schwerpunkt ändern. „Wir schaffen größtmögliche Flexibilität und haben Schul- und Ausbildungsplätze in Wohnortnähe“, nennt Ausbildungsreferent Malte Benedikt Meier zwei Vorteile.

Eine Folge der neuen Strukturen: In den diakonischen Einrichtung steigt die Bereitschaft auszubilden: 100 Plätze haben man aktuell, so Meier. Für 2023 werden 300 angepeilt. Ein Teil davon soll mit internationalen Auszubildenden besetzt werden.

Für Meier ist klar: Ausbildung habe seit der Reform 2020 einen deutlich höheren Stellenwert in der Pflege erhalten. „Wenn das sonst oft nebenbei lief, haben wir plötzlich den Freiraum, Strategien zu entwickeln, Berufsmessen zu besuchen und uns intensiver um den Azubis zu kümmern. Das ist ein neues Ausbildungszeitalter.“