Gelsenkirchen. „Wir könnten jede Woche ein halbes Dutzend Absolventen vermitteln“, sagt Bernd Kriegesmann, Präsident der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen.
Bernd Kriegesmann ist ein Hochschul-Präsident zum Anfassen. Wenn der Chef der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen in Hemdsärmeln durch die Flure seiner Hochschule läuft, scheint er jeden der rund 8400 Studierenden zu kennen. „Hallo, Herr Kriegesmann“, schallt es ihm überall entgegen. „Unser bester Mann“, sagt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter spontan über ihn, und meint den jovialen Scherz erkennbar ernst. Kriegesmann freut sich darüber. Dennoch macht ihm eine Entwicklung besondere Sorgen: die Studierenden bleiben aus.
Im vergangenen Studienjahr 2021 haben knapp acht Prozent weniger Studierende an einer Hochschule in NRW angefangen. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 waren es sogar fast 13 Prozent weniger. Welche Gründe kann das haben?
Bernd Kriegesmann: Diesen landesweiten Trend bemerken wir auch an unserer Hochschule. Da überlagen sich meines Erachtens zwei Entwicklungen. Zum einen ist es der demografische Faktor - es gibt schlicht weniger junge Menschen. Das erwischt uns jetzt. Dabei nehmen bereits über 50 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf. Das ist so gut wie ausgereizt. Und: Wir brauchen auch die, die eine Ausbildung im bewährten dualen System machen.
Und der zweite Grund?
Ich sehe ein Corona-Gap bei den Anfängerzahlen, also einen Sondereffekt nach zwei Jahren Pandemie. Viele junge Menschen sind offenbar unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollen und warten erstmal ab. Ich frage mich nur: Was tun sie? Denn in den Ausbildungsbetrieben tauchen sie offenbar auch nicht auf.
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Betrifft der Rückgang bestimmte Fächer?
Was mich besonders bekümmert ist der überproportionale Rückgang in den klassischen MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Das sind aber genau die Disziplinen, die vom Arbeitsmarkt besonders nachgefragt werden. Wir brauchen Ingenieurinnen und Ingenieure, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, etwa die Energiewende. Man kann den Klimawandel nicht wegreden, wir brauchen neue technische Lösungen.
Kommen Nachfragen nach Absolventen aus der Wirtschaft?
Wir könnten etwa im Studiengang Technische Gebäudeausrüstung jede Woche ein halbes Dutzend Absolventen vermitteln. Die Betriebe rufen an und sagen: Ich suche nicht nur einen, ich nehme fünf. Jeder unserer Absolventen hat da zehn bis 15 Jobangebote.
Sind technische Berufe bei jungen Menschen heute weniger beliebt?
Ich frage mich: Warum sind in osteuropäischen Ländern in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen Frauen und Männer fast gleich verteilt? Bei uns sind Studentinnen deutlich in der Minderheit. Ich habe keine Antwort darauf.
Wie kann man mehr Begeisterung für Technik wecken?
Das muss in den Schulen beginnen. Es gibt zum Beispiel zu wenig Physiklehrkräfte. Wenn Schülerinnen und Schüler nur bis zur Mittelstufe Physikunterricht haben – wie soll ich da Begeisterung für das Fach wecken? Und wenn jemand dann doch Elektrotechnik studiert, ist der Sprung an eine Hochschule oftmals groß.
Was können die Hochschulen tun?
Wir haben schon vor Jahren in Kooperation mit fünf Schulen Physik-Grund- und Leistungskurse an unsere Hochschule geholt. So können die Kurse stattfinden, die an den einzelnen Schulen nicht angeboten werden könnten. Hier können die jungen Menschen auch in unsern High-Tech-Laboren experimentieren und etwa ihr Longboard elektrifizieren oder eine High-Speed-Drohne bauen. So kann man junge Leute für Technik begeistern.
Aber der Lehrermangel wird vorerst bleiben…
Die Fachhochschulen, heute Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW), könnten bei der Bewältigung des Lehrkräftemangels eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Wir wollen eine eigenständige Lehramtsausbildung für berufsbildende Schulen anbieten, etwa im gewerblich-technischen sowie im sozial-pflegerischen Bereich. Denn gerade in den berufsbildenden Schulen fehlen Lehrkräfte.
Wo ist das Problem?
Bisher ist es für uns nur in Kooperation mit einer Universität möglich, an einer HAW Lehrkräfte auszubilden. Sie absolvieren ihren fachlichen Bachelor bei uns und wechseln anschließend für den Master of Education insbesondere für Didaktik und Pädagogik an eine Uni. Ich bin überzeugt, dass mehr Menschen dieses Studium wählen und ins Lehramt gehen würden, wenn sie den Bachelor und Master an einer Hochschule machen könnten und nicht wechseln müssten.
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Wie rasch könnte das an den HAW umgesetzt werden?
Das könnte rasch gehen. Sobald wir gesetzlich die komplette Lehramtsausbildung anbieten dürfen, würden wir anfangen. Mit dem Bachelor könnte man schon in diesem Wintersemester beginnen. Dann würden wir gemeinsam sofort einen Studiengang Master of Education aufbauen.
Sehen Sie dafür Chancen?
Die neue Landesregierung will 10.000 neue Lehrkräfte in die Schulen bringen. Die müssen irgendwo herkommen. Wir können angesichts der bestehenden Mangelsituation nicht entspannt weitermachen wie bisher, sondern müssen neue Wege gehen.
Zieht die Politik mit?
Dafür muss das NRW-Schulgesetz verändert werden. Im Koalitionsvertrag steht jedenfalls auf Seite 56 wörtlich: Die HAW werden wir in die Lehramtsausbildung im berufsbildenden Bereich mit einer eigenständigen Ausbildung zum Master of Education einbinden. Ich nehme die neue Landesregierung beim Wort, das muss jetzt umgesetzt werden.
Müssen wegen der Energiekrise die Hochschulen ihren Betrieb im Winter wieder einschränken?
Grundsätzlich gilt: So viel Präsenz wie möglich. Wenn es aber zu einem Gaslieferstopp kommen sollte, wird es möglicherweise Teilschließungen geben müssen. Wir rechnen zugleich mit einer Corona-Winterwelle. Das bedeutet: mehr lüften, weniger heizen. Ich schließe daher nicht aus, dass große Lehrveranstaltungen im Wintersemester wieder in Distanz stattfinden.
>>>> Zur Person
Bernd Kriegesmann (59) ist seit 2008 Präsident der Westfälischen Hochschule mit den Standorten Gelsenkirchen, Bocholt und Recklinghausen. Der Wirtschaftswissenschaftler ist zudem seit rund einem Jahr Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW), die 21 Hochschulen in NRW vertritt. Insgesamt studieren an den staatlichen, kirchlichen und privaten Fachhochschulen in NRW rund 245.600 Personen.
Als Stärke der HAW (früher Fachhochschulen) gilt die Praxisorientierung in Lehre und Forschung. Professorinnen und Professoren an HAW haben vor ihrer Lehrtätigkeit Berufserfahrung gesammelt und kennen die betriebliche Praxis. Gerade zu kleinen und mittelständischen Unternehmen bestehen zahlreiche Kooperationen.