Essen. In NRW tobt einer der längen Krankenhausstreiks Deutschlands. Eine Krankenschwester aus Essen über innere Konflikte und was auf dem Spiel steht.

Man muss Rita Gottschling gar nicht lange zuhören, da fallen sie schon: die Worte „Berufung“ und „Leidenschaft“, der Wille, „120 Prozent zu geben“ und „mit dem Kopf unterm Arm“ zur Arbeit zu gehen. „Ich bin Krankenschwester geworden, weil ich Medizin und Soziales miteinander verbinden kann. Ich will für meine Patienten da sein“, sagt die 42-jährige Essenerin, die sich nicht Pflegekraft nennt, sondern bewusst „Krankenschwester“ wählt: „Da steht der Kranke vorne.“

Seit eineinhalb Jahrzehnten arbeitet sie am Universitätsklinikum Essen, wo sie Krebspatientinnen und Krebspatienten, Kinder wie Erwachsene, auf der onkologischen Intensivstation versorgt. Die vergangenen elf Wochen waren für Gottschling besondere: Die Krankenschwester streikt.

Im Streik argumentieren beide Streitparteien mit ihrer Sorge um die Patienten

Gemeinsam mit Beschäftigten aller sechs NRW-Unikliniken fordert sie in einem der längsten Krankenhausstreiks Deutschlands mehr Personal und Entlastung und damit letztlich eine bessere Patientenversorgung per Tarifvertrag. Doch in diesem Konflikt argumentieren auch die Arbeitgeber mit ihrer Sorge um Patienten. Über 10.000 Operationen sollen NRW-weit seit Anfang Mai verschoben oder abgesagt worden sein, Betten gesperrt und selbst Krebspatienten unbehandelt nach Hause geschickt worden sein. Eh die Patientenversorgung besser werden kann, wird sie ganz erheblich eingeschränkt.

Bei Demonstrationen wie hier in Köln streiken Pflegekräfte gemeinsam mit Beschäftigten aus anderen Klinikbereichen für einen gemeinsamen Tarifvertrag Entlastung. Er soll für alle sechs Unikliniken im Land gelten.
Bei Demonstrationen wie hier in Köln streiken Pflegekräfte gemeinsam mit Beschäftigten aus anderen Klinikbereichen für einen gemeinsamen Tarifvertrag Entlastung. Er soll für alle sechs Unikliniken im Land gelten. © dpa | Christian Knieps

„Das ist ein Zwiespalt, natürlich“, sagt Gottschling. „Wir wollen um alles in der Welt verhindern, dass es in unserem Beruf so weitergeht wie bisher. Aber gleichzeitig sind da Menschen, die versorgt werden müssen. Das ist schwer, für sich klarzukriegen.“ Trotzdem stünde sie mit ganzer Kraft hinter dem Streik, sagt die alleinerziehende Mutter einer 14 Jahre alten Tochter: „Nicht der Streik gefährdet die Patientenversorgung, sondern der Normalzustand. Und es macht mich auch wütend, dass wir überhaupt in dieser Situation sind.“

Verhandlungen über Personalschlüssel für rund 200 Klinikbereiche

Bereits Anfang des Jahres hatten die Uniklinik-Beschäftigten per Ultimatum einen „Tarifvertrag Entlastung“ eingefordert. In dem wollen sie Personalschlüssel für alle Bereiche von der Klinik-Kita über die Pflege bis zum Labor verhandeln und Belastungspunkte sammeln können, wenn diese unterschritten werden. Ein ähnliches System gibt es an der Berliner Charité. Erst nachdem das Ultimatum ohne Konsequenz ausgelaufen und der Streik begonnen hatte, kamen Arbeitgeber an den Verhandlungstisch.

Inzwischen steigt der Druck, auch weil der Streik Ruf wie Wirtschaftlichkeit der Kliniken bedroht. Dem Vernehmen nach haben Verdi und die Unikliniken die komplette vergangene Woche durchverhandelt und inzwischen rund 600 feste Patient-Personal-Verhältnisse ausgemacht – für 200 Klinikbereiche im Schichtsystem. Wiederholt hatten Beobachter eine mögliche Einigung erwartet, bislang ist sie ausgeblieben. Am Ende könnte ein komplexes Vertragswerk stehen, das bundesweite Strahlkraft hat.

Notdienste vereinbart: „Im Streik sind die Arbeitsbeidnungen sogar besser“

Die Klinikbeschäftigten wollen derweil zeigen, dass sie für bessere Arbeitsbedingungen einstehen können ohne Patienten zu schaden. Mit den Kliniken wurden Notdienstvereinbarungen geschlossen, in denen Mindestbesetzungen festgemacht wurden. Rita Gottschling gehört zu denen, die dafür Personal unter den Streikenden zusammentrommeln. Sie nimmt an einer Clearingstelle teil, in der Delegierte zweimal täglich mit der Essener Uniklinik über Notfälle sprechen. Bei keinem sei bislang die Behandlung abgelehnt worden, betont Gottschling, man habe sogar mehr möglich gemacht als vereinbart.

„Das Verrückte ist, dass wir durch die Notdienstvereinbarungen bessere Arbeitsbedingungen vorfinden als vor dem Streik“, sagt Gottschling nach einer Woche, in der sie selbst die Nachtschicht übernommen hat. „Wenn Patienten wirklich auf der Strecke bleiben würden, hätte keiner von uns so lange gestreikt.“

Alleine sterben, weil Personal und Zeit fehlen

Aus dem Stand könne sie zu jeder Schicht von „einer beschissene Situation“ erzählen. Von Menschen, die zu lange auf Schmerzmittel warteten, die alleine sterben, die sich wund liegen und in ihren Exkrementen ausharren müssten - weil Zeit fehle, rechtzeitig zu ihnen zu kommen. „Das bleibt im Kopf, das macht einen fertig, weil keiner von uns so arbeiten will“, sagt die 42-Jährige. Trotzdem habe sie weiter gemacht, schleichend mehr und mehr Aufgaben mit immer weniger Kollegen bewältigt. Inzwischen habe sie Herzrhythmusstörungen.

Auch wenn die Unikliniken derzeit im Fokus stehen: Die Klagen über Überlastung und Personalmangel sind keine Einzelerscheinung. Anderswo sind Streiks aber selten: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Pflege ist gering. Fast zwei Drittel der Kliniken in NRW sind zudem in freigemeinnütziger Hand und bei kirchlichen Trägern werden Arbeitsbedingungen ohne Streik ausgehandelt.

Dennoch dürften Kliniken überall im Land den Uniklinik-Konflikt sehr genau beobachten: Sichern alle sechs Häuser ihren Beschäftigten Entlastung zu, dürfte damit Personal aus anderen Krankenhäusern angelockt werden. Eine Tarifeinigung hätte landesweite Auswirkungen.

Bei diesem Tarifvertrag, das wird schnell klar, steht auch für Gottschling einiges auf dem Spiel. Denn kommt er doch nicht zustande, werde auch sie sich die Frage stellen müssen, ob sie ihren Beruf weiter ausüben könne. Man habe die Pflege zu lange nicht ernst genommen, sagt die 42-Jährige zum Schluss. Nach diesem Streik, so viel ist sicher, dürfte sich das ändern.