Essen. VRR-Vorstandsmitglied José Luis Castrillo spricht im Interview über das 9-Euro-Ticket, steigende Kosten und schnelle Busse im Revier.

Steuermilliarden für erlebnishungrige Kurzurlauber in überfüllten Regionalzügen – für den Nahverkehr ist das 9-Euro-Ticket über Pfingsten zum Stresstest geworden. Michael Kohlstadt sprach mit José Luis Castrillo, Vorstandsmitglied vom Verkehrsverbund Rhein Ruhr, über die Folgen für den ÖPNV.

Wie beurteilen Sie die Rabattaktion der Bundesregierung nach der ersten Praxiswoche?

Das 9-Euro-Ticket ist das europaweit wahrscheinlich größte Experiment im öffentlichen Nahverkehr überhaupt. Wir als Branche hätten uns gewünscht, die vom Bund dafür bereitgestellten 2,5 bis 3 Milliarden Euro nachhaltiger verwenden zu können. Doch man kann sagen, dass die Rabattaktion ihre mediale Wirkung nicht verfehlt hat und hoffentlich dazu beiträgt, das Mobilitätsverhalten vieler Menschen zu verändern.

Wer profitiert vom 9-Euro-Ticket?

Ganz konkret ist das 9-Euro-Ticket eine große Entlastung für unsere vielen Bestandskunden, die – ganz im Gegensatz zum Tankrabatt - übrigens eins zu eins bei den Menschen ankommt.

Das heißt?

Ob Schüler, Studierende, Pendler und Senioren: Den Drei-Monats-Rabatt erhalten ausnahmslos alle unsere Kunden. Pro Familie gehen wir von einer durchschnittlichen Entlastung von 300 bis 400 Euro aus. Das ist doch ein ordentlicher Betrag.

Die überfüllten Züge über Pfingsten waren aber keine gute Werbung für den ÖPNV?

Das Pfingstwochenende hat vor allem gezeigt, dass wir das Nahverkehrsangebot grundsätzlich stark ausweiten müssen. Wir hatten praktisch alles auf der Schiene, was rollen kann. Trotzdem kam es besonders bei den Regionalbahnen und Regionalexpresslinien zu Überlastungen, mancherorts mussten Reisende auf den Bahnsteigen stehen gelassen werden. Auch die Fahrradmitnahme wurde zum großen Problem. Besser lief es bei den S-Bahnen und im kommunalen ÖPNV. Wir müssen aufpassen, gerade Menschen, die gewöhnlich nicht mit der Bahn fahren, jetzt nicht zu verprellen. Denn wir möchten, dass die Menschen dauerhaft ihr Mobilitätsverhalten zugunsten des ÖPNV ändern.

Ist das bisher gelungen?

Wir haben im VRR-Gebiet bisher mehr als 900.000 9-Euro-Tickets verkauft, es aber trotz intensiver Werbung leider nicht geschafft, damit auch viele neue Abokunden zu gewinnen. Derzeit sieht es danach aus, als ob das 9-Euro-Ticket in erster Linie für die Freizeit erworben wird.

Was passiert, wenn die Rabattaktion wie geplant Ende August ausläuft?

Dann werden wir auf das alte Preisniveau zurückgehen. Gleichzeitig müssen wir dringend Sorge tragen, dass unsere Kundentarife ab 2023 nicht durch die Decke schießen. Die Gefahr besteht real.

Warum?

Weil die Branche neben den Corona-Ausfällen jetzt auch noch die stark gestiegenen Energiekosten und die Inflation schultern muss. Allein im VRR reden wir hier von zusätzlichen Kostenblöcken in Höhe von jeweils 100 bis 150 Millionen Euro. Es geht also um die Finanzierung zusätzlicher 300 Millionen Euro. Zum Vergleich: Eine normale Tariferhöhung bringt dem VRR rund 30 Millionen Euro Mehreinnahmen. Ich warne eindringlich: Bleibt die Situation so wie sie ist, stoßen wir bald ganz klar an die Grenzen dessen, was unseren Kunden noch vermittelbar ist. Tariferhöhungen der letzten Jahre unter zwei Prozent werden die Teuerungsraten nicht mehr abfedern.

Was muss geschehen?

Wir brauchen dringend eine auskömmliche Finanzierung des ÖPNV. Dafür muss es Lösungen vom Bund und vom Land geben. Ich appelliere da auch an die künftige, vermutlich schwarz-grüne NRW-Landesregierung. Doch selbst wenn die Zuschläge für Energie und Corona-Ausfälle abgedeckt würden, hätten wir immer noch nicht auch nur einen Euro in den Ausbau der Netze und die Anschaffung klimafreundlicher Antriebe gesteckt.

Was ist nötig, um die Klimaziele im Verkehrssektor zu erreichen?

Wir dürfen nicht länger warten, sondern müssen jetzt die Weichen stellen für den Ausbau des Angebots. Wenn die Verkehrswende nicht gelingt, dann wird man andere Lösungen finden müssen, um die Klimaziele im Mobilitätssektor zu erreichen. Mir fehlt die Fantasie, welche das sein könnten.

Was fordern Sie konkret?

Mittelfristig ist der Ausbau des Schienenverkehrs unumgänglich. Das hilft uns aber nicht kurzfristig. Das Schienennetz können wir nicht von heute auf morgen ausbauen. Der VRR beteiligt sich deshalb am Aufbau eines Schnellbus-Systems, mit dem insbesondere kleinere Städte und Gemeinden in NRW angebunden werden sollen.

Der erste Schnellbus des VRR namens „XBus“ geht Mitte Juni im Raum Dortmund an den Start. Wie groß ist das Potenzial?

Wir haben allein im VRR-Gebiet ein Potenzial für insgesamt 80 Schnellbus-Linien ermittelt. In Zusammenarbeit mit den Kommunen und den örtlichen Verkehrsunternehmen werden wir das Konzept nun vorantreiben. Es geht dabei etwa darum, Parallelverkehre zu vermeiden und das S-Bus-System im Ausbau des Schienennetzes einzubetten.

Was planen Sie außerdem?

Dritte Säule des ÖPNV-Ausbaus müssen On-Demand-Verkehre sein, also etwa Kleinbusse auf Abruf, die besonders in den Randzeiten unterwegs sind. Im Ruhrgebiet gehen wir von einer Flotte von 250 bis 300 Fahrzeugen aus, die tagsüber, aber vor allem den Bedarf zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens abdecken. Der jährliche Zuschussbedarf für On-Demand liegt nach unseren Berechnungen bei circa 40 Millionen Euro.

Zurück noch einmal zum 9-Euro-Ticket. Die Aktion endet im August, die Mehrbelastungen der Bürgerinnen und Bürger durch den Ukraine-Krieg und die steigenden Energiekosten werden aber mutmaßlich bleiben. Glauben Sie, dass sich der Bund zu einer Verlängerung der Rabattaktion entschließt?

Ob es klug wäre, das 9-Euro-Ticket zu verlängern, sei einmal dahingestellt. Sollte jedoch der Tankrabatt wie in Spanien auch in Deutschland verlängert werden, rechne ich persönlich damit, dass auch ÖPNV-Kunden von einer wie auch immer gearteten Entlastung profitieren werden.