Essen. Zu viele Patienten, zu wenig Zeit und Personal: Uniklinik-Beschäftigte nennen oft nur einen Grund, warum sie seit Anfang Mai in NRW streiken.

Als im Streik-Zelt vor dem Essener Universitätsklinik das Mikrofon muckt, ist Caro Heitmann nicht um eine Reaktion verlegen: Das sei ja nun auch ein Zeichen, meint die 27-jährige Pflegekraft auf dem Podium, die seit wenigen Tagen stellvertretend für ihre Kolleginnen und Kollegen mit den Vorständen der sechs NRW-Unikliniken über lange geforderte Entlastungen für die Beschäftigten verhandelt. Kaum spreche man über den Arbeitgeber, streike die Technik, murmelt Heitmann und der Applaus ist ihr naturgemäß sicher.

Seit drei Wochen sind die Unikliniken im Land in einem Ausnahmezustand mit Ankündigung. Bereits Anfang des Jahres hatten Verdi NRW und Uniklinik-Fachkräfte mit einem 100-Tage-Ultimatum die Landesregierung und Arbeitgeberverband des Landes NRW gefordert, einen Tarifvertrag mit konkreten Abhilfen bei der täglich empfundenen Überlastung zu verhandeln. Nachdem es wegen Unstimmigkeiten über Zuständigkeiten lange kein offizielles Gesprächsangebot der Arbeitgeberseite gegeben hatte, sind die Klinik-Kräfte Anfang Mai in den Streik eingetreten. An den meisten Standorten ist er aktuell bis zum 2. Juni verlängert worden.

Intensivpflegerin: „Streik ist reine Notwehr“

Dass den Beschäftigten das alles andere als Freude bereitet, machen Heitmann und Kolleginnen auf einem Podium im Streik-Zelt unmissverständlich deutlich. Intensivpflegerin Rita Gottschling spricht sogar von „reiner Notwehr“. Die 42-Jährige wirft den Arbeitgebern vor, Verhandlungen zu lange hinausgezögert zu haben. 16 Tage nach Streikbeginn habe es ein erstes Treffen gegeben. „Ohne Streik nimmt man uns nicht wahr. Wir müssen aber endlich gesehen werden. Wir können nicht mehr.“

Die Kinderkrankenschwester Paula Adam (25) arbeitet auf der Frühchenstation des Universitätsklinikums Essen.
Die Kinderkrankenschwester Paula Adam (25) arbeitet auf der Frühchenstation des Universitätsklinikums Essen. © Fabian Strauch / FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Beispiele können die Beschäftigten einige nennen. Die 25-jährige Paula Adam berichtet, dass sie sich in der Nachtschicht um bis zu fünf Babys auf der Frühgeborenen-Station kümmere – schwer kranke Kinder, die einen künstlichen Darmausgang haben, in einem Inkubator versorgt werden müssen oder einen Drogenentzug durchmachen. Das seien viel zu viele.

Drei statt fünf Frühchen in der Verantwortung

Nicht nur die Kinder bräuchten intensive Pflege, auch die Eltern benötigten Zuwendung und Beratung. Dass die Zeit fehle, wirke sich auf alle Beteiligten aus: „Ich streike für die Gesundheit meiner Kolleginnen und Kollegen und dafür, dass ich meinem pflegerischen Anspruch gerecht werden kann“, sagt Adam.

Landesweit haben die Klinikkräfte in Teams ausgearbeitet, wie sich ihre Arbeit verbessern lässt. Feste Personalschlüssel für jeden Bereich haben sie ausdiskutiert. Nicht mehr als drei Frühchen je Fachkraft in der Nachtschicht, aber zwei Fachkräfte für einen erwachsenen schwer verletzte Patienten im „Schockraum“ sollten es beispielsweise sein.

Auch um nicht-pflegerische Bereiche gehe, wie Physiotherapeutin Carolin Paland unterstreicht: „Nicht nur die Pflege ist überlastet“, sagt die 26-Jährige und sieht sich als Fürsprecherin aller anderen Berufsgruppen im hochkomplexen System Uniklinik. Patienten würden kränker, neue Aufgaben kämen hinzu, auch solche, die nicht zu ihrem Beruf gehörten, sagt die Physiotherapeutin. Zugleich fehle Zeit etwa für die Auszubildenden.

Unikliniken beklagen hohen Schaden und viele verschobene Behandlungen

Zeit ist ein kritischer Faktor in diesem Konflikt. Die Unikliniken trifft der Streik in der nun vierten Woche hart. Der wirtschaftliche Schaden geht in die Millionen. Die Zahl verschobener Eingriffe und abgesagter Operationen steigt von Tag zu Tag, weil die mit Verdi geschlossenen Notdienstvereinbarungen nur einen „sehr reduzierten Betrieb“ zuließen, wie etwa das Universitätsklinikum Düsseldorf berichtet. Erschwerend kommt hinzu, dass die Häuser von der Pandemie und dem erst wenige Monate zurückliegenden letzten Streik noch immer stark geschüttelt sind.

Gleichwohl sahen sie sich lange nicht in der Position, überhaupt über die geforderten Entlastungen zu verhandeln. Nach Lesart der Landesregierung ist die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) zuständig, mit der sich Verdi erst 2021 im Streit um höhere Löhne für alle Landesbeschäftigten vor allem an den Unikliniken gemessen hatte.

Weil die TdL es ablehnte, über den Flächentarifvertrag hinaus nun auch noch Entlastungen für Unikliniken zu verhandeln, sollen diese das jetzt selbst tun. Dazu sollen sie aus der TdL austreten. Dazu muss das Hochschulgesetz geändert werden. Die aktuelle Landesregierung hofft, dass dies noch vor der Sommerpause gelingt. Parallel laufen seit vergangener Woche die ersten Gespräche zwischen den Klinikvorständen und Verdi.

Verdi zählt bundesweit bislang 16 Tarifverträge Entlastung

Ein „Tarifvertrag Entlastung“ ist bundesweit noch immer eine Besonderheit. Laut Verdi NRW gibt es entsprechende Regeln an 16 Kliniken. 2021 wurden sie auch für die bekannte Berliner Charité und Häuser des kommunalen Berliner Klinikträger Vivantes geschlossen. Auch dort stand die Frage im Raum, ob die Uniklinik und Vivantes überhaupt tariffähigsind – anders als in NRW setzte man sich dort unter politischem Druck mitten im damaligen Wahlkampf trotzdem zusammen.