Oberhausen. Der Oberhausener Komponist Ortwin Benninghoff ist seit den 90ern eng mit der Ukraine verbunden. Jetzt leben elf ukrainische Flüchtlinge bei ihm.
Es muss 2014 gewesen sein. Bei den pro-westlichen Maidan-Protesten in Kiew waren damals mehr als 100 Menschen getötet worden und der Oberhausener Komponist Ortwin Benninghoff setzte sich zu seinem ukrainischen Kollegen Volodimir Sukhoverskyi und sagte: „Wenn es hart auf hart kommt, dann kommt ihr zu uns.“ Acht Jahre später steht Benninghoff in seinem Garten in Oberhausen-Osterfeld und schaut Sukhoverskyi beim Spiel mit dessen Enkel zu. „Wer hätte gedacht, dass es wirklich mal so weit kommt?“
Auf der Flucht für dem Krieg Putins in der Ukraine sind Zahlen des Bundesinnenministeriums zufolge inzwischen mehr als eine Viertel Million Menschen nach Deutschland gekommen. Sie leben in Flüchtlingsheimen, eilig von den Städten angemieteten Wohnungen und Hotelzimmern – und besonders häufig auch bei Menschen zu Hause. In Dachzimmern. Auf Sofas. In freigeräumten Kinderzimmern.
13 Menschen unter einem Dach
In Oberhausen-Osterfeld, in einem großen Haus mit alter blauer Holztür, haben Benninghoff und seine Frau, die Violinistin Oksana Popsuy, gleich drei Familien aufgenommen. Elf Menschen, Großeltern, Mütter mit ihren Kindern zwischen sechs und 20 Jahren. „Freunde“, sagt Benninghoff, „denen ich viel zu verdanken habe.“
Benninghoff ist zwar Kirchenmusiker in Oberhausen. Doch seit den 90er-Jahren ist der heute 76-Jährige eng mit der Ukraine und Musikern wie Sukhoverskyi verbunden. Er leitet dort zwei Orchester, unterrichtet junge Musiker und lebt einen Teil des Jahres mit seiner Frau in dem Land.
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tauschten die Oberhausener die Musik gegen das Handy, um mit Kollegen aus Orchestern und Hochschulen und mit der Familie Popsuys in Kontakt zu bleiben. Mit einer jungen Violinen-Spielerin etwa, die nächtelang in ihrer Badewanne schlief, weil sie sich dort am sichersten fühlte. Mit der Mutter Popsuys, für die das Paar nachts per App Fliegeralarme überwachten, damit die alte Frau nicht immerzu im Schutzkeller schlafen musste. Auch mit Sukhoverskyi.
Von jetzt auf gleich geflohen, mit nichts als der Kleidung am Körper
Der 63-Jährige mit dem auffälligen schwarzen Schnäuzer leitete in Chernihiv - auch Tschernihiw geschrieben - im Norden des Landes die Musikhochschule. Die Stadt liegt auf dem Weg von der belarussischen Grenze nach Kiew. Immer wieder habe es Angriffe gegeben, inzwischen gebe es weder Gas noch Strom oder Wasser oder Internet.
Er habe bis zuletzt gehofft, sie könnten bleiben, sagt der College-Direktor. An dem Tag, an dem er floh, habe er gerade im Garten gestanden. Ein russischer Kampfjet habe einen Angriff geflogen, keine 150 Meter von Sukhoverskyi entfernt. „Da war mir klar, wir müssen weg.“ Er rief Frau und Enkelkind ins Auto, holte weitere Familienmitglieder ab. Sie hatten bei sich, was sie am Körper trugen – sogar seine Papiere habe er vergessen, sagt Sukhoverskyi und holt wie zum Beweis ein Paar alte Schuhe und eine zerschlissene Jacke, wie man sie im Garten eben trägt. Ein Bekannter habe ihm die Papiere einige Tage später an die Grenze gebracht.
Auf drei Etagen zusammenrücken – im Haus ist es trotzdem still
Das Oberhausener Paar machte derweil Platz – ihr Musikverlag, der in dem Haus seinen Sitz hat, wurde kurzerhand in Betriebsferien geschickt, Büroräume zu Schlafräumen für den befreundeten Hochschule-Direktor und seine Familie, für die Tochter eines befreundeten Geigenlehrers und deren Tochter umgerüstet. Eine zweite Etage, die sie untervermieten wollten, bietet jetzt weiteren Platz für Menschen, die kein Gepäck, kein Hab und Gut mit sich bringen konnten. In nahezu jedem Raum stehen Betten, auch wenn viele ihrer Bewohner nachts kaum an Schlaf denken können.
Wie schwer die Sorgen dieser Menschen wiegen, kann man nur erahnen. Sie erzählen von tagelangen Fluchtfahrten durchs Hinterland, begleitet von Kampfhandlungen. Von Tränen um die Ehemänner, die in der Ukraine geblieben sind. Von Sorgen um die Zukunft. Sollen die Kinder hier in Deutschland in die Schule gehen, Deutsch lernen? Wollen wir nicht so schnell wie möglich zurück? Wie realistisch muss man, wie hoffnungsvoll darf man sein?
Sie seien wie in einer Zwischenwelt, sagt fast leise die 20 Jahre alte Studentin Varvara Yaroshevych, die mit ihrer Mutter floh. „Wir warten ab.“
„Wir rücken zusammen“ - weitere Freunde suchen Zuflucht
Und doch: Im Haus wird auch gelacht. Wenn sich die Familien für ein Foto in der Sofa-Ecke unter dem dicht zugestellten Bücherregalen zusammenschieben sollen und die alten Freunde Benninghoff und Sukhoverskyi unbedingt zusammensitzen sollen. Wenn sie über zurückliegende Konzerte sprechen. Wenn Sukhoverskyi seiner Gastgeberin zum Dank auf den Scheitel küsst und Oksana Popsuy gerührt lächelt. Musik machen sie derzeit nicht gemeinsam, auch wenn in vielen Winkeln des Hauses Instrumente stehen. Das Gebäude ist fast still. „Im Moment geht uns allen anderes durch den Kopf“, sagt Benninghoff.
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Wie es weitergeht? Benninghoff meldet sich wenige Tage nach dem Besuch per SMS. Eine Bratschen-Spielerin seines Orchester aus Chernihiv sei mit Familie auf dem Weg nach Deutschland, sie kommen in Bottrop unter. Eine weitere Geigerin lebe bei ihnen, drei ältere Menschen hole seine Frau noch in Budapest ab. „Müssen ein bisschen zusammenrücken“, schreibt Benninghoff.