Gütersloh. Ohne Zuwanderung lässt sich der Fachkräftemangel nicht beheben, sagen Experten. Doch die Hürden sind hoch – für Migranten wie Arbeitgeber.
Der Fachkräftemangel in deutschen Unternehmen ist sogar noch größer als erwartet, zeigt eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung bei 7500 Entscheidern. Zwei Drittel berichten von Engpässen, ein Jahr zuvor waren es „nur“ 54 Prozent. Allerdings setzt nicht einmal jeder Fünfte auf Hilfe durch Zugewanderte. Dr. Susanne Schultz ist Expertin für Migrationspolitik bei der Bertelsmann-Stiftung. Die WAZ sprach mit der Sozialwissenschaftlerin.
Deutschland braucht Einwanderung – 400.000 Zuwanderer jährlich, sagt der Chef der Bundesanstalt für Arbeit. Wie denken Unternehmen in NRW darüber?
Schultz: Sie klagen, etwa in der Baubranche, über eklatanten Fachkräftemangel, suchen händeringend Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung oder auch zur Ausbildung. Denn wegen Corona kamen sehr viel weniger Migranten als in den Vorjahren – dabei steigt der Bedarf. Aus Staaten außerhalb der EU wanderten 2019 noch 64.219 Menschen zu, 2020 waren es nur noch 29.747.
In welchen Branchen könnten Migranten und Migrantinnen helfen?
In vielen. Ganz weit vorn sind Pflege und Gesundheitswesen. Da wird wegen Corona noch mehr Personal benötigt, während gleichzeitig mehr Beschäftigte ihre Jobs kündigen. Aber auch Handwerk, Landwirtschaft, Tourismus und Logistik sowie die IT-Branche sind auf zusätzliche Zuwanderung angewiesen.
Was sind die größten Hemmnisse für die, die kommen wollen, um zu arbeiten?
Zum Teil haben Menschen falsche Vorstellungen, was sie hier erwartet. Es ist zudem oft schwierig für viele, Fuß zu fassen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, es werden hohe Deutschkenntnisse erwartet. Nicht alle wollen auf Dauer bleiben, jedenfalls nicht ohne ihre Familie. Zudem sind die administrativen Hürden in Deutschland hoch, die Anerkennung von Abschlüssen ist extrem schwierig und die beruflichen Entwicklungsperspektiven sind eingeschränkt. Am besten sieht es da noch im Bereich der Pflege und des Gesundheitswesens aus, im Handwerk ist es nahezu unmöglich.
Wie schafft man es dennoch, qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu holen – und hier zu halten?
https://cms.cloud.funkedigital.de/webservice/thumbnail/article/233802575Deutschland ist tatsächlich wenig attraktiv für diese Menschen, da gibt es Nachholbedarf. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist hier sehr wichtig. Es wäre hilfreich, wenn sich die deutsche Gesellschaft noch mehr öffnet fürs Englische oder akzeptiert, dass es eine Weile dauert, Deutsch zu lernen. Bei der Anerkennung beruflicher Qualifikationen müssten Präzedenzfälle geschaffen und die Praxis ausgeweitet werden. Ein Masterabschluss, beispielsweise aus Pakistan, ist häufig nicht unbedingt mit einem deutschen zu vergleichen; dass Prüfungen und manchmal sogar Teile der Studiums oder die praktischen Teile der Ausbildung nachgeholt werden müssen, um Standards zu halten, ist nachvollziehbar. Aber kann das nicht auch parallel zur Beschäftigung passieren? Formal braucht es dazu mittlerweile nur noch ein konkretes Arbeitsplatzangebot. Familiennachzug müsste erleichtert werden, man könnte Arbeitsmigranten aber auch freistellen für Heimat-Besuche. Viele Firmen bemühen sich gerade um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, solche Überlegungen spielen dabei aber noch zu wenig eine Rolle, am ehesten noch bei Hochqualifizierten.
Tatsächlich sind deutsche Unternehmen eher zurückhaltend, was die Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland angeht. Nur 16 Prozent der von Ihnen Befragten setzen darauf….
Das ist richtig. Sie nennen als Gründe sprachliche Barrieren oder kulturelle Unterschiede, fürchten falsche Vorstellungen oder dass die rasch wieder den Betrieb verlassen, sehen Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Qualifikationen. Um herauszufinden,welche Fähigkeiten Zugewanderte mitbringen, hat die Bertelsmann Stiftung das Instrument „My Skills“ entwickelt, ursprünglich für Geflüchtete. Das könnte man auch im Handwerk breiter einsetzen, praktisch ist das aber noch nicht ausreichend angekommen.
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Hat das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz schon etwas gebracht, es trat im März 2020 in Kraft?
Das ist schwer zu sagen, Corona überlagert das. Doch das Gesetz ist ein erster Schritt und es ist insofern gut, als dass es die Definition von Fachkraft um alle erweitert, die eine Berufsausbildung und zum Teil auch entsprechende Berufserfahrung haben. Gut ist auch, dass durch das Gesetz auf Länderebene Stellen geschaffen wurden, die Unternehmen zur Hand gehen, etwa bei komplizierten Visa-Verfahren und zur Erleichterung von Verfahren zur Anerkennung. Oft scheitern Arbeitsverträge noch immer an formalen Voraussetzungen. Interessant ist, wie sich die Ausländerbehörden verhalten, denn das neue Gesetz ist ein Aufenthaltsgesetz. Die Erfahrung zeigt: Wenn ein Gesetz liberaler wird, werden die zuständigen Beamten gern restriktiver – und gerade im Ausländerrecht wird der Ermessensspielraum oft großzügig genutzt. Das alles muss sich noch in der Praxis mit allen Beteiligten bewähren.
Nun sind viele Migranten und Migrantinnen ja schon hier, sie kamen als Flüchtlinge. Können nicht auch sie die Lücke füllen helfen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Allein mit Zugewanderten lässt sich das Problem nicht lösen. Qualifikation, Zugang zu Ausbildung, Studium und Weiterbildung sind in diesem Bereich wichtig. Aber es geht auch um Bleibeperspektiven, um unklare Aufenthaltsstatus, um Menschen, die hier nur geduldet sind, arbeiten wollen, es aber nicht dürfen. Da gab es bereits Verbesserungen, aber es betrifft noch viele Tausende. Da gibt es großes Potenzial. Es auszuschöpfen würde im Übrigen nicht nur dem deutschen Arbeitsmarkt, sondern auch unseren Sozialsystemen nutzen.
41 Prozent der Jobsuchenden mit Migrationshintergrund fühlen sich diskriminiert, erhob jüngst das Jobportal „Indeed“. Häufig werde bereits ihre schriftliche Bewerbung aussortiert, weil Foto, Name oder Geburtsort ihre (vermeintliche) Herkunft verrieten…
Das kommt auf die Branche an, Arbeitgeber im Baugewerbe oder in der Logistikbranche sind sehr offen, die haben wirklich gute Erfahrungen gemacht – übrigens auch mit Arbeitskräften aus Afrika, die vielen Betrieben ja noch weit weg erscheinen. Aber natürlich müsste das Prinzip der anonymisierten Bewerbung stärker etabliert werden.
Wenn es tatsächlich gelingen sollte, 400.000 Fachkräfte aus dem Ausland zu uns zu locken. Fehlen die dann nicht dort?
Genau, man muss diese Dinge ganzheitlich betrachten, es geht dabei nicht nur um die Anerkennung von Titeln. Die Bertelsmann-Stiftung engagiert sich daher auch für Ausbildungspartnerschaften mit anderen Ländern. Davon haben alle Seiten was. Ziel ist es, ausländische Qualifikationen besser mit dem deutschen System der dualen Berufsausbildung zu vereinbaren, im Herkunftsland sowie in Deutschland in Kooperation auszubilden. Ein Pilotprojekt im Bereich der Pflege ist in Zusammenarbeit mit der GIZ bereits auf den Philippinen angelaufen, an einem weiteren im Bereich Bau in Subsahara-Afrika arbeiten wir aktuell.