Essen. An den Schulen ist die Stimmung angespannt. Jugendliche berichten von der Angst vor Sitzenbleiben und psychischen Problemen infolge der Pandemie.

Einige Sätze vergisst Kira Gerth nicht. Eine Freundin etwa habe ihr vor Kurzem gesagt, dass es für sie nicht mehr ungewöhnlich sei, wenn in der Mädchentoilette aus der Kabine nebenan ein Weinen zu hören sei. „Das mag ein extremes Beispiel dafür sein, wie die Stimmung gerade bei uns Schülern und Schülerinnen ist“, sagt die 18-jährige Essenerin. „Aber viele sind sehr besorgt wegen der hohen Corona-Zahlen und haben eine Riesenangst, dass ganze Klassen oder Schulen wieder nach Hause geschickt werden.“

Psychische Probleme hätten seit den letzten Lockdowns unter den Jugendlichen zugenommen. Gerth erzählt von Panikattacken, von denen nun häufiger auch in ihrem Freundeskreis die Rede sei, auch davon, wie sie abends nach einer Freundin suchte, deren Depressionen unter dem Eindruck der Pandemie schlimmer geworden sei.

Jugendliche fühlen sich nicht ausreichend gehört

Die seit über 20 Monaten andauernde Pandemie hat auch den Alltag der rund 2,5 Millionen Schüler und Schülerinnen in NRW stark geprägt. Nicht wenige von ihnen blicken jetzt mit Unmut auf die gestiegenen Corona-Fallzahlen. Schülervertreterinnen und Schülervertretern aus NRW berichten von einer angespannten Stimmung. Sie kritisieren Corona-Regeln als unschlüssig und Anlaufstellen zur psychischen Gesundheit als unzureichend. Und trotz aller derzeitigen Beteuerungen der Politik, dass es nicht mehr zur generellen Schulschließung kommt – so richtig traut man dem nicht.

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Kira Gerth und Roni Ali gehören zur Bezirksschülervertretung in Essen, die beiden 18-Jährigen sprechen damit für Jugendliche an allen weiterführenden Schulen in der Stadt. Am Telefon sagen sie, dass sich viele Jugendliche nicht gehört fühlten. „Wir haben den Eindruck, dass zwar von uns erwartet wird, dass wir uns einschränken und das haben wir ja auch getan, aber dann nicht beachtet werden, wenn es um unsere Probleme geht“, sagt Roni Ali.

Angst sitzt tief, die Klasse nicht zu schaffen

Denn bei vielen hallten die Pandemieerfahrungen nach: Leistungsdruck im Lockdown, die Verunsicherung infolge von oft kurzfristig angekündigten Maßnahmen, der Verzicht auf wichtige soziale Kontakte. Inzwischen sei die Sorge, dass es wieder über längere Strecken zum Distanzlernen kommen könne, größer als die Sorge, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren. Die Angst sitze tief, sitzen zu bleiben.

Johanna Börgermann gehört zum Vorstand der „Landesschüler*innenvertretung NRW“.
Johanna Börgermann gehört zum Vorstand der „Landesschüler*innenvertretung NRW“. © LSV | LSV

Forderung: Mehr Zeit, Lernrückstände aufzuholen

Dass auch elf Monate nach dem Start der Impfungen in Deutschland immer noch rund einer von fünf Menschen über 18 Jahren ungeimpft sei, ärgere viele der Schüler. Unsolidarisch sei das, sagt Gerth. Viele in ihren Kursen am Berufskolleg am Bildungspark in Essen seien inzwischen geimpft und würden sich trotzdem weiter testen lassen. Bei außerschulischen Events gelte 2G-plus. „Ich verstehe nicht, warum wir das nicht längst auch an anderen Stellen haben, damit Infektionen schneller erkannt werden“, sagt Roni Ali.

Lernrückstände aus den Monaten des Distanzlernens halten bis heute an. Alexander Nimtz von der Schüler Union NRW fordert daher, dass den Jugendlichen bei denen solch ein Bedarf besteht, mehr Zeit zum Nacharbeiten gegeben wird. „Wenn man ein halbes Jahr nicht im Präsenzunterricht war, helfen da nicht ein paar Nachmittage. Das muss kontinuierlich passieren und dafür brauchen wir in den Schulen Zeit.“ Auch an seiner Schule in Selm gebe es zwar Hilfsangebote, wie sie die NRW-Landregierung unlängst mit rund 430 Millionen Euro ermöglichte. Aber das allein reiche nicht. „Einige Lehrer müssen bei Bedarf mehr Übungsmaterial bereitstellen und auch abseits der Schulzeiten häufiger ansprechbar sein.“

Rückkehr zur generellen Maskenpflicht in der Schule gefordert

Landesschülervertreterin Johann Börgermann ergänzt, dass der Leistungsdruck in der Schule insgesamt weniger werden müsse. „Die Gesundheit der Schüler und Schülerinnen muss oberste Priorität haben. Wir brauchen dringend Angebote auch für die seelische Gesundheit, Abschlüsse müssen angepasst werden und wir brauchen die Maskenpflicht zurück.“ Börgermann mahnt eindringlich: „Ein drittes Jahr im Ausnahmezustand können gerade wir Abiturienten und Abiturientinnen uns nicht leisten.“

Mit der Forderung zur Rückkehr der Maskenpflicht am Sitzplatz ist Börgermann nicht allein. An vielen Schulen gibt es Appelle, weiter Maske zu tragen. „Die Masken führen uns durch die Pandemie“, sagt Roni Ali aus Essen. „Obwohl es freiwillig ist, tragen fast alle noch Masken“, sagt auch Schülersprecher Carl Dressler aus Duisburg und fügt an: „Freude bereitet das aber niemandem mehr.“

Duisburger: Am meisten ärgern unschlüssige Corona-Regeln und die Unsicherheit

Dressler besucht eine Schule, an der unlängst mehrere Corona-Fälle zu beklagen waren, das Franz-Haniel-Gymnasien in Duisburg. Eine ganze Klasse sei nach Hause geschickt worden, sagt Schülersprecher Dressler. „Solche Fälle verunsichern. Ich habe mit vielen bei uns gesprochen. Die meisten Angst, dass bald nicht mehr nur einzelne Klassen in Quarantäne geschickt werden.“

Carl Dressler ist Schülersprecher am Franz-Haniel-Gymnasium in Duisburg.
Carl Dressler ist Schülersprecher am Franz-Haniel-Gymnasium in Duisburg. © Privat | Privat

Die Stimmung sei gereizt, sagt der 16-Jährige. „Viele sind sauer, weil andere dafür sorgen, dass wir uns jetzt wieder einschränken sollen und uns in den letzten eineinhalb Jahren nicht gut auf unseren Schulabschluss vorbereiten konnten. Wir haben Schüler, die wegen des Distanzlernens jetzt Angst um ihr Abi haben.“ Es habe sich zudem eine Art Gleichgültigkeit eingeschlichen: Egal, was die Politik entscheidet, eine Kehrtwende erwarten die Jugendlichen nicht.

Am größten aber sei der Ärger darüber, dass viele Corona-Maßnahmen nicht nachvollziehbar und schlüssig seien, sagt Dressler: „Wenn ich ins Restaurant gehe, brauche ich manchmal sogar ein 2G-plus-Nachweis, aber an der Schule muss ich mich als Geimpfter nicht mehr testen lassen, auch wenn ich im Laufe einer Woche mit 120 verschiedenen Leuten in den Kursräumen sitze. Das ergibt doch keinen Sinn.“

Er fordert, dass die Corona-Regeln an den Schulen landesweit überarbeitet würden und die Schüler einen klaren Fahrplan erhalten; Wann ist womit zu rechnen und wieso? Teil eines solchen Konzepts müssten Luftfilter sein – dass es die immer noch nicht überall gebe, könne kaum einer verstehen.

Wittener sind zuversichtlich: Einschränkungen erwarten sie nicht

In Witten hat man sich selbst geholfen. Die Kommune hat ab Ende 2020 sogenannte CO2-Ampeln angeschafft, die anzeigen, wann man in eine Klassenraum mal wieder die Fenster öffnen müsste. Am Albert-Martmöller-Gymnasium finden die beiden Schülersprecher Kai Kopleck und Paul Hellweg diese technische Lösung gut. „Ist die Ampel Grün, können die Fenster geschlossen bleiben, springt sie auf Gelb, macht man sie eben auf. Darauf achten alle, das läuft gut“, sagt der 17-jährige Kopleck. Er und Hellweg zeigen sich im Gespräch durchaus zuversichtlich.

Sorge vor schulischen Einschränkungen haben sie nicht, auch fordern sie nicht die Rückkehr zur generellen Maskenpflicht. Die freiwillige Lösung funktioniere. „Wir haben uns an vieles gewöhnt“, sagt Paul Hellweg. „Wir haben einen hohen Selbstschutz, wir halten Abstand und wir reduzieren wieder unsere Kontakte.“ Frustriert darüber sei er nicht, ergänzt Kopleck. „Da müssen wir jetzt alle an einem Strang ziehen.

>> INFEKTIONSZAHLEN AN SCHULEN IN NRW

Das NRW-Schulministerium sieht das Infektionsgeschehen an Schulen auf niedrigem Niveau und verweist in einer Statistik darauf, dass zum Stichtag 10. November keine Klasse oder Schule wegen Corona geschlossen worden sei. Bis 10. November meldeten die rund 5000 Schulen im Land 7.662 positive Corona-Fälle und 17.487 Jugendliche in Quarantäne – damit waren rund 1,6 Prozent der Schülerschaft im Distanzunterricht. 2074 der rund 150.000 Lehrkräfte sind wegen Quarantäne oder Infektionen ausgefallen. Im neuen Infektionsschutzgesetz sich drastische Maßnahmen wie eine generelle Schließungen von Schulen aus dem Katalog der Maßnahmen gestrichen worden.