Bochum. Von einer Wissensregion Ruhr zu reden, sei angesichts großer sozialer Probleme irreführend, sagte Lutz Raphael anlässlich des Historikerpreises.
Trotz aller Erfolge kann sich das Ruhrgebiet beim Strukturwandel nicht auf dem bisher Erreichten ausruhen. Die Beschwörung des Wandels von der Montan- zur Wissensregion greife zu kurz. Um den tiefen sozialen Graben in der Region zu überwinden, müsse nun der nächste Bildungsschritt erfolgen, sagt der renommierte Sozialhistoriker Lutz Raphael (66) anlässlich der Verleihung des Bochumer Historikerpreises.
Der in Essen geborene Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier und Autor des Buches „Jenseits von Kohle und Stahl“ erhält am heutigen Mittwoch die mit 30.000 Euro dotierte Ehrung der Stadt Bochum und der Ruhr-Universität für sein „beeindruckendes Lebenswerk“.
Wer die Vergangenheit kennt, lernt für die Zukunft, heißt es. Was kann das Ruhrgebiet aus seiner Geschichte lernen?
Lutz Raphael: Wenn wir über die Zukunft der Industrieregion sprechen wollen, müssen wir uns die Erfahrungen des ersten bewältigten Strukturumbruchs nach dem Ende der Montanindustrie genau ansehen. Nur dann kann die weitere Transformation der Region bewältigt werden.
Was meinen Sie damit?
Nach dem dramatischen Abbau der Industriearbeitsplätze hat man zunächst versucht, die alten Strukturen so lange wie möglich zu bewahren. Später wurde versucht, die sterbende Montanindustrie durch modernere Großunternehmen zu ersetzen, zu nennen wäre etwa Opel in Bochum oder die Aluminiumwerke in Essen. Das aber hatte nur bedingt Erfolg. Zugleich kann sich das Ruhrgebiet glücklich schätzen, dass dieser Prozess sozial abgefedert wurde und die Region nicht verwahrloste wie andere Montanregionen, etwa in Großbritannien.
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Ist der Strukturwandel aus historischer Sicht also gescheitert?
Ein Blick auf die Stärken der Region kann helfen, mit nüchternem Blick die Chancen zu beurteilen. Was hat die Region groß gemacht? Das war die Arbeitskultur, die Innovationskultur und die qualifizierte Facharbeiterschaft. Das kann eine Basis für die Zukunft sein. Es reicht nicht, nur auf die Kreativwirtschaft und den Dienstleistungssektor zu setzen. Das hat zwar auch im Ruhrgebiet einen Wandel bewirkt, aber zugleich ist das Ausmaß der sozialen Ungleichheit gewachsen. Das ist der Preis, wenn man die Förderung kleinerer und mittlerer Betriebe, Startups und die betriebliche Qualifizierung vernachlässigt. Industrienahe Anwendungen bleiben wichtig, ein gutes Beispiel dafür ist das Technologiezentrum in Dortmund. Aber in dem Punkt sind die Städte im Revier sehr unterschiedlich aufgestellt.
Stimmt also die Erzählung vom Wandel zur Wissensregion nicht?
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Sie ist zumindest schönfärberisch. Was ist die Wissensgesellschaft eigentlich? Wir sehen im Revier einen breiten Niedriglohnsektor, dort wird nicht groß nach Wissen gefragt, sondern nach billigen Arbeitskräften. Das ist die Realität, da kann man das Etikett Wissensregion draufkleben, das zeigt aber nicht die ganze Wahrheit.
Wie sieht das realistische Bild aus Ihrer Sicht aus?
Dazu gehört auch, dass Arbeitslosigkeit und Kinderarmut im Ruhrgebiet hoch sind, es geht einher mit Bildungsdefiziten, Qualitätsdefiziten der Schulen in sozial benachteiligten Regionen, einer ungleichen Verteilung der Einwanderung, einem tiefen sozialen Graben zwischen Nord und Süd sowie der Abwanderung von hoch qualifizierten Menschen.
Die Region wirbt gerne für sich als dichteste Hochschullandschaft Deutschlands – ein Etikettenschwindel?
Forschung, Bildung und Hochschulen sind der richtige Weg. Aber die Vorstellung, dass es damit schon getan wäre, ist falsch. Akademische Ausbildung und Titel allein bringen die Region nicht voran. Wichtig wäre mehr duale Ausbildung, also an Betriebe und Produktion gekoppelte Qualifizierung, die berufliche und akademische Ausbildung vereint. Das ist ein Element der Wissensgesellschaft, das gerne vergessen wird. Es wird Zeit, dass im Ruhrgebiet nun die nächste Stufe gestartet wird.
Was würde das bedeuten?
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Die Hochschulen sollten nicht nur auf akademische Bildung setzen, sondern die Menschen für den Aufstieg qualifizieren und daher mehr duale Ausbildung anbieten. Der Kampf um den Strukturwandel ist trotz aller Erfolge durch die Hochschulansiedlungen mit der Akademisierung auf keinen Fall beendet.
Die Unis im Ruhrgebiet sind stolz darauf, viele Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien auszubilden…
Die Hochschulen sind auf dem richtigen Weg. Die große Zahl von Erstakademikern ist ein Erfolg. Man muss die jungen Menschen dort abholen, wo sie stehen. Aber das Ruhrgebiet braucht weiterhin eine produktive Basis, das muss man weiterentwickeln. Der Weg ist, Wissen und Bildung mit der industriellen Tradition und betrieblicher Qualifikation zu verbinden. Im Münsterland und im Sauerland gibt es hoch spezialisierte kleine und mittlere Betriebe, die auf ihrem Gebiet führend sind. Das brauchen wir auch in Bottrop und Gelsenkirchen.
Bleibt das Ruhrgebiet also eine Krisenregion?
Das Ruhrgebiet hat Chancen, es hat sich zu einer spannenden Region mit vielen Möglichkeiten entwickelt. Wenn man vergleicht, was aus anderen Montanregionen geworden ist, dann erkennt man die Potenziale. Doch als Historiker sage ich auch, wer in Fünf- oder Zehnjahres-Zyklen denkt, ist zu ungeduldig. Das braucht Zeit.
>>>> Der Bochumer Historikerpreis
„Lutz Raphael gehört zu den wissenschaftlich einflussreichsten und innovativsten deutschen Historikern des 21. Jahrhunderts.“ So begründet Prof. Stefan Berger, Vorsitzender des Vorstands der „Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets“ die Entscheidung der Preisstifter.
Der mit 30.000 Euro ausgestattete „Bochumer Historikerpreis“ wird seit 2002 vergeben. Vorherige Preisträger waren Catherine Hall, Marcel van der Linden, Christoph Kleßmann, Eric Hobsbawm, Jürgen Kocka und Lutz Niethammer. Der Preis würdigt alle drei Jahre herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.