Essen. Forschung ist der Treiber des Wandels im Revier. Neuer Sammelband beleuchtet erstmals Geschichte der Wissenschaft im Ruhrgebiet

Vorher war dort nichts, nur Ackerland. Wo einst im Bochumer Süden die Wiesen zur Ruhr hin abfielen, steht heute der mächtige Gebäudekomplex der Ruhr-Universität. Gegossen aus Beton und mit Wucht in die Landschaft geworfen wie es nur die euphorischen 1960er-Jahre wagen konnten. Dass der gesamte Uni-Komplex als Hafen im Meer des Wissens konzipiert wurde, in dem die langgestreckten Gebäude wie Schiffe am Ankerplatz des Geistes anlegen, kann man wohl nur aus der Vogelperspektive erahnen.

Am 2. Januar 1964 begannen die Bauarbeiten, nur eineinhalb Jahre später, am 30. Juni 1965, wurde die Eröffnung gefeiert. Zwei Feldfabriken wurden direkt auf dem Campus errichtet, dort wurden die riesigen, tonnenschweren Betonelemente in Serie gefertigt. Große Kräne brachten die Teile sofort an ihren Platz, „das ging tack, tack, tack“, erinnerte sich der Architekt Wulf Schmiedeknecht, der damals an dem Bau mitgewirkt hatte.

Starke Arme und kluge Köpfe

Wie wichtig nicht nur dieser universitäre „Stapellauf“ für das Ruhrgebiet war und immer noch ist, hat der neue Sammelband „Forschung, Kultur, Bildung – Wissenschaft im Ruhrgebiet“ nachgezeichnet. Erstmals wird in diesem von zahlreichen Wissenschaftlern verfassten und im Klartext-Verlag erschienen Band die Geschichte und Wirkung von Wissenschaft und Bildung im Ruhrgebiet vom 19. Jahrhundert bis heute aufgearbeitet und sichtbar gemacht.

Deutlich wird unter anderem, wie stark Forschung und Wissenschaft schon lange vor der Gründung der Universitäten die Entwicklung des Ruhrgebiets vorangetrieben haben. „Die Vorstellung, dass im Ruhrgebiet nur Leute mit starken Armen leben, die klugen Köpfe aber immer woanders waren, stimmt eben nicht“, sagt der Bochumer Historiker und Mitherausgeber des Bandes, Prof. Stefan Berger. „Die Forschung im Revier war zunächst stark auf die industrielle Anwendung im Bergbau, in der Stahlindustrie und der Chemie ausgerichtet“, erläutert Berger. Somit bildete sich eine spezifische Wissenschaftslandschaft heraus, die wesentlich war für den Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit der Revier-Industrie.

Wer studieren wollte, musste fortziehen

Man muss sich vor Augen führen, in welche Zeit die Ruhr-Uni gepflanzt wurde, um den dramatischen Wandel zu begreifen: Zechen und Hochöfen prägten das Revier. Bis 1965 gab es keine Studierenden in der Region, aber noch rund 300.000 Beschäftigte im Ruhrbergbau. Doch es war absehbar, dass sich die Zeiten ändern würden. Bildung statt Bergbau, Arbeiterkinder an die Hochschulen – so lautete bald die Devise. Fachkräfte wurden gebraucht für den fälligen Strukturwandel.

Die Ruhr-Uni war die erste große Universitätsneugründung in Deutschland nach dem Krieg. Dann ging es Schlag auf Schlag: In den späten 60er- und 70er-Jahren setzte die Landesregierung Hochschulen ins Land wie Tulpenzwiebeln. Bochum, Dortmund und Bielefeld waren der Anfang. Unter Johannes Rau ging es 1972 weiter mit den Gesamthochschulen Essen, Duisburg, Wuppertal, Siegen und Paderborn. 1975 wurde die in Deutschland einzigartige Fernuniversität Hagen gegründet – derzeit mit rund 75 000 Studierenden die größte Uni weit und breit.

Hochschulen als große Erfolgsgeschichte

Heute verfügt NRW über 14 Universitäten, 16 Fachhochschulen, sieben Kunst- und Musikhochschulen, fünf Verwaltungshochschulen sowie 28 staatlich anerkannte private und kirchliche Hochschulen – darunter Deutschlands erste private Universität Witten/Herdecke. Insgesamt 770.000 Menschen studieren heute an Rhein und Ruhr. „ Die Hochschul-Gründungen schreiben die größte Erfolgsgeschichte für den Strukturwandel in der Region“, so Berger. Dabei trat neben den klassischen Ingenieur- und Technikwissenschaften immer stärker auch der Aspekt einer „breiteren Volksbildung“ in den Vordergrund. Geistes-, Sozial- und Bildungswissenschaften, Museen, Stiftungen und Forschungsinstitute begleiteten die Entwicklung und prägten die Kultur im Ruhrgebiet.

Doch bis dahin war es ein langer und weiter Weg. Zwar wurde in Duisburg bereits 1655 eine Universität gegründet, die vor der Industrialisierung für den Nachschub an reformierten Pfarrern und höheren Beamten sorgte. Doch wurde sie wegen „unzureichender Auslastung“ 1818 geschlossen. Bis in Duisburg erneut Studierende einen Hörsaal betreten konnten, sollten gut 150 Jahre vergehen.

Ein neues Zukunftsversprechen

So stark die Forschung einst die führende Stellung der Schwerindustrie angetrieben hat, so sehr befördert sie auch den heutigen Strukturwandel zu einer Bildungs- und Wissenschaftsregion. „Es gibt keine erfolgreiche Wirtschaftsförderungsgeschichte, die ohne Hochschulen auskommt“ , sagt Rasmus C. Beck, Geschäftsführer der Business Metropole Ruhr, die das wissenschaftliche Buchprojekt unterstützt hat. Beck: „Das Ruhrgebiet braucht ein neues Zukunftsversprechen – und das lautet Wissen.“

>>>> Neuerscheinung bei Klartext

Der Band „Forschung, Kultur und Bildung – Wissenschaft im Ruhrgebiet zwischen Hochindustrialisierung und Wissensgesellschaft“ umfasst 27 Beiträge und erscheint im Klartext-Verlag Essen (548 S., 39,95 Euro). Herausgeber sind Jens Adamski, Stefan Berger, Stefan Goch, Helmut Maier und Daniel Schmidt.