Essen. Sollten Unis Physiotherapeuten ausbilden? Seit Jahren läuft die Debatte zum Studium von Gesundheitsberufen. Der Bund will später entscheiden.
Physiotherapeuten und Therapeutinnen können dieser Tage wohl nicht über zu wenig Arbeit klagen: Monate im Homeoffice haben sich bei vielen Beschäftigten im Rücken manifestiert, Operationen werden nachgeholt. Termine beim „Physio“ sind begehrt – nicht erst jetzt: „In den Praxen herrscht schon seit Jahren kein Mangel an Arbeit“, sagt Detlef Katzki vom NRW-Landesverband für Physiotherapie. „Was uns fehlt, sind die Fachkräfte.“
Frisch ausgebildete Menschen gingen dem Beruf oftmals nach wenigen Jahren verloren, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmten, sagt Katzki und meint damit auch den vergleichsweise geringen Bruttolohn. „Wir müssen unseren Beruf weiterentwickeln. Ein Weg dahin ist die Akademisierung.“
Modellstudiengänge starteten 2010 in NRW
Seit über zehn Jahren wird dieser Weg in NRW erprobt. 2009 hatte der Bund ermöglicht, Modellstudiengänge für Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie zu testen, deren dreijährige Berufsausbildung bislang an Fachschulen gekoppelt ist. NRW etablierte 2010 an der neuen Hochschule für Gesundheit in Bochum die drei Studiengänge im Modell. Modell heißt, dass der Gesetzgeber sie nach einer Erprobungszeit beenden kann, wenn sie sich nicht bewähren.
Mit fünf Jahren Verspätung sollte es 2021 darüber Klarheit geben: Die Modelle sollten auslaufen. Fachleute hatten auf die Überführung in Regelstudiengänge mit klarer politischer Stärkung der therapeutischen Fachkräfte gehofft. Doch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Entscheidung erneut vertagen, bis 2024. Am heutigen Freitag soll der Bundestag abstimmen.
Physiotherapeuten in NRW: Berufsstand muss aufgewertet werden
In NRW ist der Unmut groß, wie am Beispiel der Physiotherapeuten-Ausbildung deutlich wird: Hochschulen fehlt die Planungssicherheit, Berufsverbände beklagen eine Hinhaltetaktik. „Wir warten seit über zehn Jahren auf eine Entscheidung“, sagt Katzki. Berufspolitisch schade dies zunehmend dem Ansehen. „Es muss endlich was kommen, um unseren Berufsstand nach außen aufzuwerten.“
Schon jetzt werde in der Physio-Ausbildung vieles diskutiert, dem eine akademische Basis zugrunde liegen müsste. „Wir fordern seit Jahren, zur Entlastung der immer weniger werdenden Ärzte Patienten direkt und ohne Verordnung behandeln zu dürfen, damit sie schneller wieder in den Beruf zurück gehen können“, sagt Katzki. Dazu braucht es Kompetenzen und ein Fachwissen, das über die Fachschulen hinaus gehe. . Ziel sei eine Voll-Akademisierung des Berufs ohne die derzeitige Berufsfachschulausbildung herabzuwürdigen.
Über 720 Absolventen der therapeutischen Gesundheitsfachberufe in Bochum
Christian Grüneberg leitet an der Hochschule für Gesundheit in Bochum den Studienbereich Physiotherapie. Er ist davon überzeugt, dass die Qualität der Patientenversorgung gesteigert werde, wenn Therapeuten akademisch ausgebildet werden. „Sie können schneller auf neue Entwicklungen und Forschungsergebnisse reagieren und Dinge weiterentwickeln.“. Es gehe nicht darum, die bisherige Ausbildung schlecht zu reden. „Ein Hochschulstudium geht aber weiter.“ Und es ermögliche, dass „Physios“ als Partner auf Augenhöhe im Gesundheitssystem wahrgenommen würden.
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Bochum verweist auf eine Studie, die sich mit elf Modellstudiengängen an sieben Hochschulen befasst. Danach bleiben neun von zehn Absolventen ihm Beruf treu. Arbeitgeber bescheinigen dem Nachwuchs einen „Mehrwert“, weil er wissenschaftlich arbeiten könne und ein hohes Maß an Reflexionsvermögen mit sich bringe.
In Bochum haben sich bislang über 720 junge Menschen ihren Abschluss in einem der drei therapeutischen Gesundheitsfachberufe gemacht, darunter 308 Physiotherapeuten. Sie machen einen doppelten Abschluss – nach drei Jahren legen sie ihre Prüfung zur Berufszulassung ab wie andere Physiotherapeuten auch, schreiben dann ihre Bachelorarbeit. Die Hochschule muss hochschulische Vorgaben erfüllen und die Prüfungsverordnung von 1994 der bisherigen Ausbildung. Das fresse Zeit und belastete die Studierenden.
Physiotherapeuten könnten Ärzte entlasten und mehr Aufgaben übernehmen
Dass es nicht voran geht, soll an den Bundesländern liegen: Dem Vernehmen nach sind die Modellstudiengänge in Deutschland nicht miteinander zu vergleichen. Damit könne auch nicht klar gesagt werden, welcher gesellschaftliche Mehrwert insgesamt im staatlich finanzierten Modellversuch stecke. So erklärt es Roy Kühne, selbst Physiotherapeut und Abgeordneter der CDU-Bundestagsfraktion.
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„Es ist bislang aber genauso wenig geklärt, was aus einem Studium folgt“, so Kühne. Darf ein studierter Physiotherapeut selbst Röntgenbilder anfordern? Was verdient er? Kühne sieht Krankenkassen, Unis und Berufsverbände in der Pflicht. Er befürwortet die Akademisierung. So könnten die Gesundheitsfachberufe Ärzte entlasten und Aufgaben selbstständig übernehmen. „Dazu muss auch klug in Forschung investiert werden und das bekommen wir mit einer Akademisierung dieser Berufe.“
SPD: Spahn wollte Entscheidung bis in die übernächste Legislaturperiode vertagen
Bettina Müller, Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für die Gesundheitsfachberufe, kritisiert den Koalitionspartner. Die SPD hätte schon in der letzten Wahlperiode Nägel mit Köpfen machen wollen. Erreichen konnte die Fraktion aber, dass die Verlängerung nur bis 2024 gilt - Spahn hatte eine Befristung bis 2026 in Planung. Das wäre die übernächste Legislaturperiode.
„Wir finden, das Spiel mit der Modelleisenbahn muss gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiode endlich beendet werden“, so Müller. „Die Ausbildung in den Therapieberufen braucht eine verlässliche Perspektive, damit der Berufsnachwuchs nicht wegbleibt und sich der Fachkräftemangel weiter verschärft.“
>>> Ausbildung und Vergütung
Die Regel-Ausbildung zum Physiotherapeuten dauert drei Jahre. Lange Jahre fiel an den 56 NRW-Schulen Schulgeld an. Zum Jahresanfang hat Landes-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zugesagt, dass NRW 100 Prozent der Schulkosten rückwirkend ab 1. Januar übernehme.
In NRW verdient eine dreijährig ausgebildete Physiotherapeutin laut Entgeltatlas im Schnitt 2.473 Euro (brutto/Vollzeit) im Monat, ihr männlicher Kollege etwa 300 Euro mehr. Mit durchschnittlich 2565 Euro liegt NRW im oberen Drittel der Bundesländer. Es gibt viele Spezialisierungsgebiete, etwa die Behandlung von Kindern.