Wuppertal. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss auch NRW seine Klimaziele nachschärfen. Experte fordert schnelleren Ausstieg aus der Kohle.
Plötzlich geht es rasend schnell. Nachdem das Bundesverfassungsgericht das bisherige Klimaschutzgesetz teilweise gekippt hat, benötigte die Politik nur knapp zwei Wochen für eine umfassende Reform des Gesetzes. Danach soll Deutschland schon 2045 statt 2050 klimaneutral sein, also praktisch überhaupt kein CO2 mehr ausstoßen. Was das für das „Kohleland“ NRW bedeutet, ob der Umstieg so schnell gelingen kann und künftig alles teurer wird, darüber sprach Christopher Onkelbach mit dem Energie- und Klimaforscher Prof. Manfred Fischedick, seit 2020 Leiter des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.
Prof. Fischedick, erleben wir gerade einen Wendepunkt im Kampf gegen den Klimawandel?
Manfred Fischedick: Ob das wirklich ein Wendepunkt ist, muss sich in den nächsten Monaten zeigen. Denn jetzt kommt es darauf an, die Ziele mit Maßnahmen zu hinterlegen. Insgesamt ist aber eine kritische Masse entstanden, die viel bewegen kann. National ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts prägend, worauf die Politik mit atemberaubender Geschwindigkeit das Klimaschutzgesetz nachgeschärft hat. Aber es ist auch international ist eine große Dynamik in das Thema gekommen. Zu nennen sind die Selbstverpflichtungen von Ländern wie USA, Japan, Südkorea, China, Kanada und auch der EU, die alle angekündigt haben, klimaneutral werden zu wollen. Die technologischen Entwicklungen sowie die Kostenreduktionen bei den erneuerbaren Energien schaffen heute ganz andere Möglichkeiten. Viele Unternehmen haben Investitionspläne für eine klimaverträgliche Produktion aufgestellt und machen Druck auf die Politik.
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Ziele sind das eine, wie sollen sie umgesetzt werden?
Das ist der Knackpunkt. Spätestens nach der Bundestagswahl geht es ans Eingemachte, denn bis 2030 soll der Treibhausgasausstoß um mindestens 65 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 gesenkt werden. Bisher lautete die Zielmarke 55 Prozent. In den vergangenen 30 Jahren haben wir die Emissionen um gut 40 Prozent gemindert. Rechnet man die Effekte der Corona-Krise heraus, die rund sechs Prozent Minderung brachte, waren es eigentlich nur 34 bis 35 Prozent. Jetzt wollen wir in knapp zehn Jahren weitere 30 Prozent reduzieren – das ist ambitioniert aber notwendig.
Wie kann man das erreichen?
Wichtig ist, dass alle ihren Beitrag leisten. Daher ist es richtig, dass die übergeordneten nationale Ziele per Gesetz runtergebrochen werden auf die einzelnen Sektoren wie Energie, Verkehr oder Gebäude. Für jeden einzelnen Sektor sind bis 2030 jahresscharf konkrete Minderungsziele festgelegt. Das Schwarze-Peter-Spiel zwischen den Ressorts funktioniert jetzt nicht mehr. Gerade der Bereich Verkehr muss jetzt liefern, da sind die Emissionen seit 1990 eher noch angestiegen. Für ihn geht es nach Maßgabe der Bundesregierung um annähernd eine Halbierung der Emissionen in diesem Jahrzehnt.
Wieso kommt gerade jetzt so viel Dynamik in das Thema? Hätte das nicht viel früher passieren können?
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Dafür gibt es mehrere Gründe. In Deutschland und in vielen Regionen der Welt spüren wir die Auswirkungen des Klimawandels immer deutlicher. Die Wetterextreme nehmen zu, Stürme, Dürre, Trockenheit. Die wärmsten sechs Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erlebten wir in den vergangenen zehn Jahren. Zudem sind die technologischen Alternativen besser und ökonomisch attraktiver geworden, also Solar- und Windenergie sowie die Wasserstoff-basierte Produktion, etwa von Stahl. Zusätzlich hat die Corona-Pandemie das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir uns mit Krisenprävention intensiver beschäftigen müssen.
Was bedeuten die verschärften Klimaschutzziele für Nordrhein-Westfalen?
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Hier liegt die größte Herausforderung im Bereich der Energiewirtschaft. NRW ist für etwa 40 Prozent der bundesweiten Treibhausgas-Emissionen aus dem Energiesektor verantwortlich. Bisher war der Kohleausstieg für 2038 vorgesehen. Das müssen wir signifikant vorziehen, sonst sind die Ziele nicht zu erreichen. Und im Bereich der energie-intensiven Industrie müssen wir die Umstellung auf klimaverträgliche Prozesse beschleunigen. Stahl, Chemie, Papier – die größten Emittenten liegen in NRW. Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Die Politik in Bund, Land und EU ist gefordert, hier Unterstützung zu leisten und die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Unternehmen investieren können, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Müssen wir schneller aus der Kohle aussteigen?
Ja, und nicht nur in NRW. Wenn wir die Obergrenze des CO2-Ausstoßes einhalten wollen, müssen wir beim Strukturwandel deutlich an Geschwindigkeit zulegen. Zeitgleich müssen wir die erneuerbaren Energien und die Netze ausbauen, um den Strom zu den Verbrauchern zu bringen. Da sind dicke Bretter zu bohren. Im Schnitt dauert die Genehmigung eines Windparks sechs bis acht Jahre. Da müssen wir schneller werden. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In den nächsten vier bis sechs Jahren entscheidet sich, ob wir das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 erreichen. Die Devise muss also heißen: Klotzen statt Kleckern, sonst können wir es vergessen.
Wir durch die Klimaziele künftig alles teurer?
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Das muss nicht sein. Bisher liegt die CO2-Abgabe bei 25 Euro die Tonne. Das macht etwa sieben Cent pro Liter Benzin aus. Dieser Preis muss zwingend steigen, damit man eine Lenkungswirkung erzielt. Hierdurch werden die Kosten natürlich zunächst steigen. Die entscheidende Frage ist, wie man das sozial flankieren kann.
Woran denken Sie dabei?
Möglich wäre eine Art Klimaprämie oder ein Bürgergeld, um die höheren Kosten auszugleichen. Es geht darum, die Einnahmen aus der CO2-Abgabe an die Leute zurückzugeben. Sozial schwächer gestellte Menschen würden dadurch sogar entlastet, weil sie weniger CO2 verbrauchen. Wer ein großes Auto fährt, zahlt hingegen mehr. Das ist auch so gewollt.
Es gibt bereits heftige Kritik an den Plänen, wonach Vermieter die Hälfte der zusätzlichen Heizkosten wegen der neuen CO2-Abgabe zahlen sollen. Ist das gerechtfertigt?
Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Eine faire und sozial ausgewogene Lastenverteilung bei den Kosten schafft die notwendigen Anreize, die Gebäude energetisch zu sanieren. Passende Förderprogramme sollten die Vermieter dabei finanziell unterstützen.
Die Wirtschaft kritisiert, das Klimaschutzgesetz gefährde Wohlstand und Arbeitsplätze. Was sagen Sie den Unternehmern?
Nicht, wenn der politische Rahmen richtig gesetzt wird. Nur ein Ziel zu setzen und die Wirtschaft im Regen stehen zu lassen, macht keinen Sinn. Doch auch die Unternehmen haben ein Interesse an einer klimaverträglichen Entwicklung in Deutschland. Um uns herum verändern sich die Märkte. Die Finanzwirtschaft und die Konsumenten fordern verstärkt Produkte, die klimagerecht sind. Wenn man jetzt die Entwicklung nicht mitmacht und den technologischen Vorsprung in Deutschland etwa beim Anlagenbau nicht nutzt, verschenkt man am Ende Chancen und gefährdet Arbeitsplätze.
Wenn Bahn und ÖPNV durch die CO2-Abgabe teurer werden, würde das die Verkehrswende ausbremsen…
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Wir brauchen die Bahn und den ÖPNV für einen klimagerechten Verkehr. Bei Flugbenzin gilt eine Steuerermäßigung, Bahn und ÖPNV aber zahlen fleißig. Wir müssen dieses Missverhältnis beenden. Es ist daher nur gerecht, wenn das Fliegen teurer wird. Das wird automatisch dazu führen, dass die Bahn attraktiver wird.
Hat die Coronakrise dazu beigetragen, die Klimakrise engagierter anzugehen?
Die globale Pandemie hat uns gezeigt, dass wir sie nur gemeinsam und mit einem breiten Engagement in den Griff bekommen. Nur wenn alle mitmachen, kommen wir ans Ziel. Das gilt ebenso wie für die Bewältigung der Klimakrise. Klimaschutz muss eine Massenbewegung werden. Die Politik muss die Menschen in die Lage versetzen, dabei mitzuziehen.
Sind Sie zuversichtlich, dass Deutschland die Klimaziele erreicht?
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Ich bin optimistischer als noch vor drei Jahren. Viele Länder ziehen mit, erneuerbare Energien sind heute weltweit wettbewerbsfähig und die Bereitschaft der Gesellschaft und der Wirtschaft, ihren Beitrag zu leisten, wächst stetig. Aber: Wir haben nur einen Versuch, es gibt keine Blaupause. Wir brauchen jetzt eine konsequente und mutige Politik, die uns den Weg weist.