Essen. Die Corona-Pandemie bringt für viele Menschen erhebliche Einschränkungen. Ex-Gefängnisinsassen stellen sie vor ganz neue Herausforderungen.

An dem Tag, an dem Sven W. aus dem Gefängnis entlassen wird, ist sein erster Gedanke ein unerwarteter: „Ich wollte am liebsten wieder zurück in den Knast“, sagt der 50-Jährige. Sechs Jahre hat er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Remscheid eingesessen, eine Strafe, zu der er nach einem bewaffneten Drogenhandel verurteilt worden war. Als W. Anfang April wieder auf freien Fuß kommt, steht er in einer Welt, die er so nicht kennt. In einer Welt, in der Hände schütteln verpönt ist, Masken getragen werden, zu Mitmenschen Abstand gehalten werden muss und bestimmte Freiheitsrechte beschnitten sind. „Auf all das, was durch Corona anders ist, war ich nicht vorbereitet“, sagt er.

Wenn Straftäter aus dem Gefängnis entlassen werden, müssen sie zurück in ein normales Leben finden. Die Pandemie erschwert dies nach Einschätzung von Fachleuten enorm. Hilfsangebote fallen vielfach weg, Plätze in Wohnheimen sind nur schwer zu bekommen, die Hürden, um Arbeit und eine eigene Bleibe zu finden, sind gestiegen. Erschwerend hinzukommt der ungewohnte Umgang mit der Pandemie.

Corona war wie „Nachrichten vom Mars“

Natürlich habe er das aktuelle Geschehen im Fernsehen verfolgt, sagt Sven W. „Für mich war das, was ich im Fernsehen über Corona gesehen habe, aber total weit weg“, sagt er. Wie „Nachrichten vom Mars“ habe sich das angefühlt. W. ist ein kräftiger Mann, der selbstbewusst wirkt - doch am Tag seiner Entlassung hat ihn ein Land im Lockdown überfordert. Der Weg in ein Wohnheim war schwer zu finden, vor Ort eine Maskenpflicht befremdlich - im Gefängnis sei aufs Maskentragen nicht geachtet worden, sagt W.. Zwar habe er bei seinen Freigängen im vergangenen Sommer bereits ansatzweise erlebt, wie sich das Leben in der Pandemie anfühlt. „Aber das war ja eher wie ein Ausflug und ich war nicht wirklich Teil davon.“ Noch immer wundere er sich, wenn Menschen die Stirn runzeln, wenn er den Abstand von 1,5 Metern nicht haargenau einhalte.

Gerade wegen solcher besonderen Herausforderungen kritisieren Träger der Freien Wohlfahrtspflege in NRW, dass viele Angebote des sogenannten Übergangsmanagements für Strafgefangene derzeit wegfallen. Heike Moerland, die das Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration bei der Diakonie in NRW leitet, bemängelt, dass etwa ehrenamtliche Helfer nur selten in die JVAs gehen dürften, um dort Unterstützung für eine bevorstehende Entlassung zu leisten. „Dadurch bricht eine wichtige Stütze für die Inhaftierten weg“, sagt sie. Beratungsgespräche könnten nicht stattfinden, was die Wohnungs- sowie Arbeitssuche oder Anträge für Sozialleistungen deutlich erschwerte.

Häftlinge der JVA Bochum standen teilweise unvorbereitet auf der Straße

Auch im Umfeld der JVA Bochum sind diese Probleme bekannt. „Am Anfang der Pandemie standen die Leute völlig unvorbereitet auf der Straße“, sagt Marcus Krischak, Leiter der Straffälligenhilfe der Caritas Bochum. Er würde sich wünschen, dass das Entlassmanagement mehr an die derzeitige Situation angepasst und etwa die technischen Ausstattungen in den Anstalten verbessert würden. „So können die Gefangenen auch in Zeiten von Corona schon aus dem Gefängnis heraus behördliche Angelegenheiten regeln“, sagt Krischak. Viele Anträge können derzeit nämlich nur online gestellt werden.

In der JVA Bochum nach Ansicht von Hilfsverbänden Häftlinge am Anfang der Pandemie unvorbereitet entlassen.
In der JVA Bochum nach Ansicht von Hilfsverbänden Häftlinge am Anfang der Pandemie unvorbereitet entlassen. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Das hätte auch Sven W. geholfen. „Ich hatte natürlich kein Handy, kein Computer oder sonst etwas und weiß nicht, wie ich im Internet Anträge ausfüllen soll.“ Wie gerade erst geboren habe er sich gefühlt. „Man muss das ja alles erst lernen.“ Einiger seiner Freunde könnten gar nicht verstehen, wie lange er etwa braucht, um eine Nachricht auf dem Smartphone zu tippen. Inzwischen kennt er sich mit dem Online-Bezahldienst Paypal aus. „Mittlerweile lerne ich diese Dinge aber immer mehr“, sagt w. und ist darüber ebenso stolz wie auf die Tatsache, dass er seit sechs Jahren ohne Drogen lebt.

Wegen Corona: Frühere Entlassung bei Kurzstrafen

Weiter nur eingeschränkte Kontakte in JVAs

Wegen der Corona-Pandemie werden die Kontakte laut des Justizministeriums in den JVAs zunächst bis zum 9. Mai weiter reduziert. Ausnahmen gibt es lediglich für Freigänger, die arbeiten müssen oder einkaufen wollen. Auch zwingend erforderliche Maßnahmen im Rahmen der Entlassvorbereitung sollen gestattet werden.

In den Gefängnissen NRW wurde das Coronavirus seit Beginn der Pandemie nach Angaben des Justizministeriums bei 334 Gefangenen nachgewiesen, bei 177 davon in diesem Jahr. 241 der Insassen sind mittlerweile wieder genesen.

Hilfe bekommt er bei vielen Dingen vom Wichernhaus in Wuppertal, in dem Haftentlassene wohnen können. Es gibt dort 28 Plätze - und eine lange Warteliste. Die Suche nach einem Platz in solchen Einrichtungen ist landesweit derzeit nicht leicht. Zu Beginn der Pandemie sind erste Strafunterbrechungen und Strafaufschübe gewährt worden, um des Infektionsrisiko zu senken. Das Justizministerium hatte zudem beschlossen, dass Insassen mit einer Kurzstrafe früher entlassen werden. Dafür müssen sie aber eine feste Adresse vorweisen.

„Das alles sorgt dafür, dass immer mehr Leute zu uns kommen wollen“, sagt Petra Söder, die Leiterin des Wichernhauses. Aufnahmegespräche können derzeit nur telefonisch durchgeführt werden. „Es ist so natürlich viel schwieriger, den Menschen einzuschätzen und kennenzulernen.“

Haftentlassene brauchen strukturierten Tagesablauf

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Auch die Angebote innerhalb des Hauses leiden. Größere Gruppenabende oder gemeinsames Kochen können nicht stattfinden. „So etwas ist für die Resozialisierung der Bewohner aber wichtig, um Struktur in ihren Tagesablauf zu bekommen“, sagt Söder. Viele Klienten würden deshalb morgens oft liegen bleiben und so die Gefahr steigen, dass sie in Depressionen verfallen.

Sven W. hat etwas gefunden, in dem er sich trotz Pandemie engagiert. Gemeinsam mit dem Verein „Lernraum Knast“ hat er schon als Freigänger Schulen besucht und den Schülerinnen und Schülern dort von seinen Erfahrungen erzählt. „Ich will den Jugendlichen zeigen, dass es eben nicht cool ist, ein Gangster zu sein und im Gefängnis zu landen.“ Wenn er über sein Projekt redet, wirkt er wieder selbstbewusst und nicht so verloren, wie er sich am ersten Tag der Entlassung gefühlt hat. Und so ist er mittlerweile doch froh, dass sich die schweren Türen der JVA Remscheid in Richtung Freiheit für ihn geöffnet haben und sagt: „Langsam spüre ich die Schönheit des Lebens draußen.“