Essen/Köln. Im Missbrauchsskandal des Erzbistums Köln soll heute ein Gutachten für Aufklärung sorgen. Kritiker sehen den Rechtsstaat gefordert.

Die schleppende Aufarbeitung des Missbrauchsskandals im Erzbistum Köln hat die katholische Kirche in ihre schwerste Krise seit Jahren gestürzt. Termine für Kirchenaustritte sind in Köln seit Wochen ausgebucht. Selbst Bischofs-Kollegen schütteln über den in der Dauerkritik stehenden Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki nur noch den Kopf. Mit einem neuen Gutachten will Woelki nun in die Aufklärungsoffensive kommen. Kritiker bezweifeln, dass dies gelingt. Und längst steht die Frage im Raum: Wo bleibt im kirchlichen Missbrauchskomplex eigentlich der Rechtsstaat?

Kardinal droht Verantwortlichen Konsequenzen an

Worum geht es?

Das Erzbistum Köln steht vor einer Woche der Wahrheit. Am heutigen Donnerstag will Erzbischof Woelki ein von ihm selbst in Auftrag gegebenes Gutachten zu den Missbrauchsfällen vorstellen. Das Papier des Strafrechtlers Björn Gercke werde Verantwortliche klar benennen, kündigte der Kardinal auf dem Kölner Portal „domradio.de“ im Vorfeld an. Über mögliche personelle Konsequenzen will Woelki bis zum 23. März entscheiden. Ein erstes Missbrauchs-Gutachten hält der Kardinal dagegen seit Monaten unter Verschluss - wegen angeblicher methodischer Mängel.

Wie schwer wiegen die Missbrauchsvorwürfe?

Laut jüngsten Berichten geht es im Gercke-Gutachten um rund 200 beschuldigte Priester und Laien und rund 300 Opfer, deutlich mehr als zuvor angenommen. Teilweise soll es sich dabei um schwerste Missbrauchsfälle handeln. Viele Fälle liegen Jahre und Jahrzehnte zurück. Im Fadenkreuz stehen daher vor allem die Vertuschungsvorwürfe gegen Bistumsverantwortliche. Experten wie der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster gehen davon aus, dass eine systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen unter Woelkis Vorgängern, den Kardinälen Meisner und Höffer, sowie durch weitere hohe Kleriker im Erzbistum stattgefunden hat. „Einige von ihnen sind auch heute noch in Amt und Würden. Wohlgemerkt: Wir reden hier von der Vertuschung schwerster Straftaten“, sagte Schüller dieser Redaktion. Von der Veröffentlichung des neuen Gutachtens verspricht sich der Kirchenrechtler, „dass Namen genannt werden.“ Ob es in der Folge zu Rücktritten und Suspendierungen kommt, ist für den Münsteraner Professor noch nicht ausgemacht. Strafrechtlich werde das ohnehin keine Rolle mehr spielen. Schüller: „Die Fälle sind verjährt.“

„Das Gutachten zurückzuhalten, ist keine Straftat“

Welche Rolle spielt Kardinal Woelki im Missbrauchsskandal?

„Das Gutachten zurückzuhalten, ist keine Straftat“, sagt Thomas Schüller. Bisher habe Woelki nur gegen Kirchenrecht verstoßen, weil er einen Missbrauchsverdacht gegen einen bestimmten Priester nicht fristgemäß nach Rom gemeldet habe. Schüller: „Das ist kirchenrechtlich eine Amtspflichtverletzung.“ Im Umgang mit den Vorwürfen habe Woelki aber ein „unvergleichliches Kommunikationsdesaster“ angerichtet. Köln sei zum „Sargnagel für das Ansehen der katholischen Kirche in Deutschland“ geworden.

Vorwurf schwerer Verbrechen

Es geht um den Vorwurf schwerer Verbrechen – ermittelt die Staatsanwaltschaft?

Bisher nicht. Laut Auskunft des NRW-Justizministeriums haben alle nordrhein-westfälischen Bistümer - Aachen, Köln, Münster, Essen und Paderborn - den zuständigen Staatsanwaltschaften seit 2018 im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen Akteneinsicht gewährt. Im Kölner Fall hätten sich dabei keine strafrechtlich relevanten Ansätze ergeben. Die Fälle seien entweder verjährt oder die Täter schon tot. Das Ministerium wies zudem darauf hin, dass es in Deutschland keine allgemeine Pflicht zur Anzeige von Straftaten gibt. Dies gelte auch für die Kirchen. Eine Anzeigenerstattung kann der Staat demnach nicht erzwingen. Kirchenrechtler Schüller hält eine Reform der Regel für überfällig. „Bei Verdacht auf eine Sexualstraftat muss es in Deutschland endlich eine generelle Anzeigenpflicht geben, die auch für institutionelle Einrichtungen gilt“, fordert er. In weiten Teilen der Welt sei das längst Rechtsstandard.

Kirche jahrelang mit Samthandschuhen angefasst

Ist die Kirche eine Art Staat im Staat?

„Das Strafrechtsmonopol des Staates gilt selbstverständlich auch für die Kirchen“, betont Kirchenrechtler Schüller. Allerdings habe der Staat die beiden großen Kirchen im Umgang mit Missbrauchsfällen jahrelang mit Samthandschuhen angefasst. So habe sich der Eindruck verfestigt, dass insbesondere die katholische Kirche im strafrechtlichen Sinne eine Art Staat im Staat sei. Noch bis Anfang des Jahrtausends hinein hätten Staatsanwaltschaften selbst bei begründeten Verdachtsfällen nicht eingegriffen, sondern auf den Aufklärungswillen der Kirchen vertraut. Dieser Aufklärungswille hat sich 2010 geändert. Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz regeln seitdem klar: Missbrauchsfälle in der Kirche müssen den Strafverfolgungsbehörden umgehend angezeigt werden.

Was sagt die Politik?

Die SPD erhöht den Druck auf Woelki. Jochen Ott, Fraktionsvize der SPD im Düsseldorfer Landtag fordert Kardinal Woelki auf, im Kölner Missbrauchsskandal endlich „reinen Tisch“ zu machen. „Bei aller gebotenen Trennung von Kirche und Staat, hier geht es nicht um seelsorgerische oder kirchenrechtliche Fragestellungen, sondern schlichtweg um Verbrechen. Und die müssen ohne Ansehen der Person oder Institution lückenlos aufgeklärt werden. Die Menschen erwarten jetzt vollständige Transparenz und Aufklärung. Wenn das nicht gelingt, muss sich auch die Politik des Themas intensiv annehmen“, sagte Ott dieser Redaktion.