Essen. Der Kölner Erzbischof Woelki steht wegen seines Umgangs mit Missbrauchsfällen unter Druck. Kritiker sprechen von moralischem Versagen.

Sein Wahlspruch stammt aus der Apostelgeschichte. „Wir sind Zeugen“ steht auf dem Schriftband des Bischofswappens von Rainer Maria Woelki. Die Bibelstelle, in der es um Wahrhaftigkeit und die Beweiskraft der christlichen Auferstehung geht, wird nun auch in weltlichen Dingen zum moralischen Maßstab für den Kölner Erzbischof und Kardinal. Woelki steht wegen seines Umgangs mit der Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle durch katholische Priester immer stärker unter Druck. Seit Monaten hält er ein von ihm selbst in Auftrag gegebenes Missbrauchsgutachten unter Verschluss. Kritiker sprechen längst von moralischem Versagen Woelkis. Der Kardinal versuche, seine Karriere zu retten. Täterschutz gehe in der Kölner Diözese offenbar vor Opferschutz, so der Vorwurf.

„Verheerendes Signal für uns alle“

Selbst höchste Würdenträger der katholischen Kirche in Deutschland gehen auf Distanz zu ihrem Glaubensbruder am Rhein. In seltener Deutlichkeit stellte jüngst der Münchener Kardinal Reinhard Marx seinen Amtskollegen an den Pranger. Marx bezeichnete die Nichtveröffentlichung des Gutachtens als „verheerendes Signal für uns alle“. In der Öffentlichkeit werde nun nur noch wahrgenommen, „dass Juristen über Spitzfindigkeiten auf dem Rücken der Opfer streiten“, sagte Marx der Süddeutschen Zeitung. Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, kritisierte die Missbrauchsaufarbeitung in Köln scharf. Woelki hatte der mit dem Gutachten beauftragten Münchener Kanzlei methodische Mängel angelastet und bei einem anderen Rechtsexperten ein neues Gutachten bestellt. Es soll im März fertig sein.

Der Vorgang ist brisant

Doch damit nicht genug. Zum Streit um die Kölner Verschlusssache gesellt sich eine Vertuschungsaffäre, die zur Beurteilung inzwischen auf dem päpstlichen Schreibtisch in Rom gelandet ist. Der Vorgang gilt als derart brisant, dass selbst der Rücktritt des 64-jährigen Kirchenmannes nicht mehr ausgeschlossen wird.

Missbrauchsvergehen aus den 1970er Jahren

Auslöser der aktuellen Krise ist ein schweres Missbrauchsvergehen eines Düsseldorfer Priesters in den 1970er Jahren. Als der Fall 2011 zur Anzeige gebracht wurde, war Woelki Weihbischof in Köln. Die Umstände hatte kürzlich der Kölner Stadtanzeiger aufgedeckt. Stein des Anstoßes: Woelki hatte die Missbrauchsvorwürfe gegen den mittlerweile verstorbenen Priester seinerzeit nicht wie kirchenrechtlich gefordert an den Vatikan weitergemeldet. Der Erzbischof hat das inzwischen eingeräumt und sein Verhalten mit der Erkrankung des damals bereits dementen Geistlichen begründet. Außerdem habe das mutmaßliche Missbrauchsopfer zur Aufklärung des Falles nicht beitragen wollen, was der Betroffene inzwischen aber bestreitet.

Woelki selbst schaltet den Vatikan ein

Zur kirchenrechtlichen Klärung der Angelegenheit schaltete der Kardinal jetzt selbst den Vatikan ein. „Versäumnisse im Umgang mit sexualisierter Gewalt müssen offengelegt werden, unabhängig davon, gegen wen sie erhoben werden. Dies bezieht auch mich ein“, ließ Woelki dazu jüngst mitteilen - für Beobachter eine reine Flucht nach vorn. Die kirchenrechtliche Untersuchung könnte ausgerechnet dem Nachbarbistum Münster zufallen. Heißt: Bischof würde gegen Bischof ermitteln. Denn es ist der frühere Ruhrbischof und jetzige Münsteraner Bischof Felix Genn, der als dienstältester Bischof in der Kirchenprovinz Köln, zu der auch Essen gehört, für den Fall juristisch zuständig wäre.

Kardinal trennt sich von seinem Kommunikationschef

In Köln wächst unterdessen die Verunsicherung. Wohin das mit knapp zwei Millionen Katholiken größte deutsche Bistum, dessen nördlichster Zipfel in Essen-Kettwig bis ins Ruhrgebiet reicht, unter seinem angeschlagenen Erzbischof steuert, scheint derzeit höchst ungewiss. Vor wenigen Tagen trennte sich der Erzbischof überraschend von seinem Kommunikationschef Markus Günther. Ein Bauernopfer? Laut Medienberichten soll Günther den Kardinal zur Veröffentlichung des Gutachtens gedrängt haben. Auch das Verhältnis zwischen Kardinal und Generalvikariat, der zentralen Verwaltungsbehörde des Bistums, soll belastet sein. Woelki gilt intern zwar als persönlich integer, aber auch als unnahbar und beratungsresistent.

Bislang glänzende Karriere

Dabei hat der 64-Jährige seit seiner Priesterweihe vor 35 Jahren eine glänzende Karriere in der katholischen Kirchenhierarchie hingelegt. 2003 wurde er Weihbischof in seiner Heimatstadt Köln. 2011 ernannte ihn Papst Benedikt XVI. zum Erzbischof von Berlin. Schon drei Jahre später ging Woelki in gleicher Funktion zurück nach Köln. Die Kardinalswürde erhielt er 2012. Woelki gilt unter den deutschen Bischöfen nicht gerade als Modernisierer, seine Einstellungen zu Frauen im Priesteramt und zur Homosexualität sind betont konservativ. Gleichwohl trat der Kölner mit publikumswirksamen Aktionen der Nächstenliebe hervor. Bundesweite Aufmerksamkeit erzeugte Woelki auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015, als er für jeden seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtling die Glocken in einhundert Bistumskirchen schlagen ließ - insgesamt 23.000 Mal.