Essen. Seit einem Jahr prägen die Zahlen der Corona-Pandemie unseren Alltag. Die Redaktion hat einige Daten ausgewertet und mit Experten gesprochen.
Von Inzidenzen bis Übersterblichkeit: Rund ein Jahr nach dem ersten Corona-Fall in NRW prägen die Zahlen und Daten der Pandemie noch immer das alltägliche Leben. Allein in NRW haben sich bislang über eine halbe Million Menschen mit dem Virus infiziert.
Wer ist besonders von betroffen? Gab es in Pflegeheimen und unter Senioren 2020 eine Übersterblichkeit? Wie waren die Kliniken belastet? Und wo stünden wir ohne den harten zweiten Lockdown? Die Redaktion hat einige Daten ausgewertet und mit Experten gesprochen.
Wie aussagekräftig sind Inzidenzen?
Gebannt verfolgt das Land die Kurve der bestätigten Corona-Infektionen. Die Sieben-Tage-Inzidenz zeigt an, wie viele Menschen je 100.000 Einwohner sich in einer Woche angesteckt haben. Die Politik orientiert sich bei ihren Maßnahmen an dieser Zahl. Doch wie aussagekräftig ist sie?
„Für sich genommen sagt der Wert wenig aus“, sagt die Expertin für Datenanalyse Katharina Schüller. Die Geschäftsführerin des Münchener Spezialdienstleisters Stat-Up kooperiert unter anderem mit dem Essener Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung RWI. In die Betrachtung müsse einfließen, wann die Tests erfolgten, bei welcher Personengruppe, in welcher Region und in welchem Alter.
Wollte man wissen, wie viele Corona-Infizierte es wirklich gibt, müsste man an einem Tag die gesamte Bevölkerung testen. Nur dann ließe sich eine Aussage über das wahre Infektionsgeschehen treffen. Dann gäbe es keine Dunkelziffer und man hätte eine Antwort auf die Frage, ob sich ein Anstieg der Infektionszahlen damit erklären lässt, dass die Zahl der Tests gestiegen ist.
Zu erwarten ist, dass die Zahl der positiven Testergebnisse mit der Anzahl der Tests steigt. Wie stark der Effekt ist, lässt sich aus den Zahlen nicht exakt ablesen. Wie schwierig es ist, ein klares Bild von der tatsächlichen Infektionslage zu erhalten, wurde Weihnachten deutlich. „Vor den Feiertagen haben sich viele Menschen testen lassen, die keine Symptome hatten, um ihre Familien zu besuchen.“ Die Folge: Die Zahl der Tests stieg an, die Quote der positiven Ergebnisse blieb fast konstant.
Viele Tests aus Eigeninitiative beeinflussen zudem die Dunkelziffer. Einerseits werden mehr Fälle gefunden, die nie entdeckt worden wären. Andererseits führen mehr unnötige Tests zu einer geringeren Quote positiver Ergebnisse, die wiederum für die Abschätzung der Dunkelziffer herangezogen werden. Welcher der Effekte stärker ist, sei unmöglich zu sagen. Daher gibt die Ziffer der Neuinfektionen ein unvollständiges Bild.
Ein Beispiel: In der 18. Kalenderwoche Anfang April gab es rund 8300 Neuinfektionen, in der 36. Kalenderwoche Anfang September waren es ähnlich viele. Man könnte meinen, die Lage hätte sich über den Sommer nicht verändert, tatsächlich ist aber der Anteil der Personen, die positiv getestet wurden, deutlich gesunken.
Um die Veränderungen beim Anteil der positiven Tests zu verstehen, muss man beachten, dass heute andere Personengruppen getestet werden als in der ersten Welle, betont die Datenexpertin. Während im Frühjahr deutliche Symptome sowie Kontakte zu Infizierten Voraussetzung für eine Testung waren, wurden im Sommer zunehmend Reihentestungen gefährdeter Personengruppen durchgeführt.
Katharina Schüller rät daher, mehrere Faktoren in den Blick zu nehmen. „Der Inzidenzwert ist ein guter Orientierungspunkt, reicht aber nicht aus, um die Lage zu beschreiben.“ Man müsse die Positiv-Quote, die Zahl der Intensivpatienten sowie die Todesfälle einbeziehen. „Es gibt nicht die perfekte Zahl, an der man alles ablesen kann.“
Sterben mehr Menschen wegen der Pandemie als in den Vorjahren?
Der Blick auf die Statistik legt dies nahe: Im Dezember lag die Zahl der Todesfälle in allen Altersgruppen in NRW laut Landesstatistikamt um 17 Prozent über dem Wert des Vorjahresmonats. Der Trend setzte sich im Januar 2021 mit einem Plus von 15 Prozent fort. Und auch im gesamten Jahr 2020 stieg die Zahl der Verstorbenen um drei Prozent auf 212.851, besonders in der Altersgruppe über 65 Jahre sind mehr Todesfälle zu beklagen gewesen. Doch wie groß die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesamtzahl der Sterbefälle ist, lässt sich schwer beziffern: Differenzierte Daten zu den Todesursachen in den verschiedenen Altersgruppen liegen für NRW noch nicht vor.
Nach Berechnungen des Statistikers Prof. Göran Kauermann könne man 2020 nicht von einer bedeutsamen „Übersterblichkeit“ in der Gesamtbevölkerung sprechen. Die Experten vom Lehrstuhl für Statistik in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der LMU München haben bei ihrer Auswertung berücksichtigt, dass die Bevölkerung insgesamt altert. Da es immer mehr ältere Menschen gibt, sei auch automatisch mit mehr Sterbefällen im Alter zu rechnen.
„Analysen zur Übersterblichkeit beruhen zumeist auf absoluten Zahlen von Todesfällen in bestimmten Alterskategorien“, erklären die Wissenschaftler. Das ist unproblematisch, solange sich über die Jahre wenig an der Altersverteilung ändert. Das aber treffe für die Gruppe der über 80-Jährigen nicht zu. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.
Wenn man dies berücksichtige, ergebe sich in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen sogar eine „Untersterblichkeit“, die sich insbesondere mit dem Teil-Lockdown ab November zeige. Eine Erklärung: Die Menschen verbrachten mehr Zeit zu Hause, es gab daher weniger Unfälle.
In der Gruppe der 60- bis 79-Jährigen zeige sich auch unter Berücksichtigung der Covid-19-Todesfälle keine Übersterblichkeit. Dazu könne beigetragen haben, dass die jährliche Grippewelle wegen der Hygienemaßnahmen deutlich milder ausgefallen sei, so Kauermann. Nur bei den Hochbetagten, den über 80-Jährigen, sei eine „leicht erhöhte Sterblichkeit“ je 100.000 Lebenden erkennbar.
Ohne Kontaktbeschränkungen und Lockdowns hätte sich sicherlich ein anderes Bild ergeben, räumen die Forscher ein. Wie sich die Sterblichkeit angesichts aggressiverer Virus-Mutationen und einer drohenden dritten Welle entwickeln wird, können erst spätere Analysen zeigen.
Immerhin: Von der ersten bis zur achten Kalenderwoche sind in NRW die Neuinfektionen bei über 90-Jährigen um 84 Prozent, bei über 80-Jährigen um rund 75 Prozent gesunken. Über 80-Jährige werden prioritär geimpft. Bislang sind insgesamt in NRW über 1,6 Millionen Erst- und Zweitimpfungen durchgeführt worden (Stand 9. März).
Sind 2020 mehr Pflegeheimbewohner gestorben?
Das ist nicht leicht zu klären. Zwar machten Heimbewohner ein Jahr nach dem ersten NRW-Fall rund 40 Prozent aller Corona-Verstorbenen aus. Es fehlen aber Vergleichszahlen. Orientierung gibt eine WAZ-Sonderauswertung der AOK Rheinland/Hamburg. Für Versicherte ab 80 Jahren, die pflegebedürftig sind und stationär betreut werden, haben die Statistiker erfasst: 2020 sind 3,8 Prozent mehr Menschen verstorben als im Durchschnitt der drei Vorjahre. Es gab also nicht sehr viel mehr Todesfälle. Zum Vergleich: Bei den ambulant Versorgten gab es ein Plus von 11,1 Prozent. Berücksichtigt man, dass mehr Versicherte pflegebedürftig geworden sind, ist die Sterberate unter allen Betroffenen von 10,8 auf neun Prozent gesunken.
Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung überrascht das nicht. „Wir haben ein Präventionsparadox”, so Isfort. Wenn Maßnahmen gegen ein Virus wirken, sinken die Fallzahlen. Deshalb sei das Virus aber nicht weniger gefährlich.
Wenn es aber trotz hoher Corona-Zahlen keine Übersterblichkeit in den Heimen gab – ist dann beim Infektionsschutz vorher etwas verpasst worden? Isfort ist zurückhaltend mit einer Gesamtaussage. Hygienekonzepte habe es auch vorher gegeben: „Das Bewusstsein über ihre Wichtigkeit ist noch einmal gestiegen.”
Wo stünden wir ohne Lockdown?
Einen Hinweis geben Prognosemodelle. Intensivmediziner und Forscher der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen haben auf Grundlage eines Modells im Vorfeld des harten Lockdowns gewarnt: Ohne strenge Maßnahmen seien im Februar bis zu 6000 Corona-Intensivpatienten in deutschen Kliniken zu erwarten. Mit einem Lockdown könnte ihre Zahl auf rund 1900 Ende Januar reduziert werden. Tatsächlich sind es auch jetzt noch rund 2800. Die Wissenschaftler führen das auf leichtere Maßnahmen im Vergleich zum Frühjahr zurück.
Die Infektionszahlen wären ohne den Lockdown mindestens auf dem Dezember-Niveau geblieben, sagt Jan Fuhrmann, der sich am Jülicher Forschungszentrum auch mit Regeltreue in der Pandemie befasst. „Ohne nennenswerte Veränderungen unseres Kontaktverhaltens seit Mitte Dezember hätte man weiter steigende oder mindestens keine fallenden Inzidenzwerte erwarten müssen.“
Dass die Kurve weiter steil nach oben gegangen wäre, sei schwer zu sagen: „Auch ohne Lockdown hätten Menschen ihr Verhalten wahrscheinlich geändert, mit ihm können zum Beispiel Grenzverkehre die Fallzahlen erhöhen.“ Das Wachstum ließe sich nur begrenzt dokumentieren, etwa weil Testkapazitäten endlich sind.
Der Jülicher Forscher verweist auf Länder wie Indien, wo die Corona-Inzidenzen auch ohne Lockdown inzwischen zurückgehen. „Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass dort mit dem Verhalten in der Bevölkerung nahezu Herdenimmunität erreicht wurde und damit die Fallzahlen insgesamt sinken.“ In Deutschland gehe man davon aus, dass 50 bis 75 Prozent der Bevölkerung immun oder geimpft sein müssten, damit sich der Erreger kaum noch ausbreitet.