Essen. In Pflegeheimen sind besonders viele Menschen an und mit Corona gestorben. Fachkräfte sind empört über den Vorwurf, sie kümmerten sich zu wenig.

Es gab Schutzmasken, Schnelltests und Eingangskontrollen und trotzdem war es nicht zu verhindern. Im November fand das Coronavirus einen Weg ins Duisburger Seniorenzentrum Altenbrucher Damm. Es breitete sich aus, etwa jeder zweite der rund 130 Bewohner infizierte sich.

Claudia Finke, eine energisch auftretende, zugewandte Frau, arbeitet seit 17 Jahren in dem Heim arbeitet. Sie erinnert sich noch an Sorgen und Tränen dieser Zeit: Neun Menschen starben mit einer Infektion, zwei „definitiv daran“, sagt sie. „Ohne Corona würden diese Menschen jetzt wohl noch leben“, sagt sie. „Das zu wissen, das ist schwer.“

In NRW machen Heimbewohner rund 40 Prozent der Corona-Toten aus

In keiner anderen Bevölkerungsgruppe hat das Coronavirus bislang so schwerwiegende Folgen gehabt wie unter den Pflegeheimbewohnern. Seit Beginn der Pandemie sind in NRW 5.285 von ihnen an oder mit Corona verstorben (Stand Freitag), sie machen rund 40 Prozent aller Corona-Toten im Land aus – überproportional viel: Rund 170.000 der NRW-Bürger leben in Heimen. Erst mit den Impfungen und dem Lockdown sinken die Corona-Fallzahlen.

Claudia Finke arbeitet im Seniorenzentrum Altenbrucher Damm in Duisburg. Sie berät Angehörige und Bewohner und hat sich für die palliative Begleitung ausbilden lassen.
Claudia Finke arbeitet im Seniorenzentrum Altenbrucher Damm in Duisburg. Sie berät Angehörige und Bewohner und hat sich für die palliative Begleitung ausbilden lassen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Wieso sind so viele Heimbewohner mit dem Virus gestorben? Haben wir unsere Alten zu wenig geschützt? Längst haben Heimleiter einen Strategiewechsel in der Pandemie gefordert, um mehr Ressourcen in die stationären Einrichtungen zu verschieben. Doch es werden auch Fragen laut, ob die Alten ausreichend medizinische Hilfe erhalten haben.

Patientenschützer beklagen, dass Pflegebedürftige die Klinik nicht mehr erreichen würden

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz etwa berichtete der Redaktion von einzelnen, nicht konkret benannten Fällen, in denen infizierten Heimbewohnern aus ihrer Sicht nicht genug geholfen worden war. Der Vorsitzende Eugen Brysch mahnte in der Hochphase der zweiten Welle, dass die meisten Todesfälle bei über 70-Jährigen zu beklagen sind, das Durchschnittsalter auf den Intensivstationen aber jünger sei. Es müsse geklärt werden, warum so viele Hochbetagte und Pflegeheimbewohner die Kliniken nicht erreichen, so Brysch.

Aus Sicht von Fachleuten ist schon der Schutz der Pflegebedürftigen schwierig. Nordrhein-Westfalen setzte nach dem vielfach kritisierten Besuchsverbot im Frühjahr sehr stark auf den Einsatz von Schnelltests, um Schutz wie Teilhabe zu ermöglichen. Doch erst kurz vor Weihnachten setzte ein Heimbetreiber gegen das Land gerichtlich durch, Testverweigerern auch den Zutritt verwehren zu dürfen. Heute ist Besuch nur dann möglich, wenn ein negatives Testergebnis nicht älter als 48 Stunden ist.

Auch Beschäftigte und Bewohner werden getestet, es herrscht Maskenpflicht – dennoch gibt es aktuell knapp 682 infizierte Bewohner. „Einen 100-prozentigen Schutz gibt es für die Heime nicht“, sagt die Bremer Wissenschaftlerin Karin Wolf-Ostermann. „Und wenn das Virus in einer Einrichtung ist, hat es gute Bedingungen, sich auszubreiten.“ Heimbewohner sind mehrheitlich schwer pflegebedürftig, je intensiver Pflege stattfinde, umso problematischer sei jeder Kontakt.

Fachkraft: Viele Bewohner wollen nicht mehr ins Krankenhaus

Dass schwer erkrankten Senioren aber der Zugang zu intensivmedizinischer Hilfe verwehrt worden sei, etwa um jüngere Patienten stattdessen zu behandeln, dagegen wehren sich Fachkräfte wie Claudia Finke. Sie verweist auf den Patientenwillen: „Wir erleben in den Heimen immer wieder, dass Menschen ganz klar sagen, dass sie nicht ins Krankenhaus wollen“, sagt Finke, die sich bereits vor Jahren für die Begleitung von Menschen in ihren letzten Lebensstunden hat ausbilden lassen. „Nicht wir entscheiden das, sondern sie. Daran ändert auch Corona nichts.“

Der Haus- und Palliativarzt Dr. Klaus Blum engagiert sich in Bochum im Palliativnetzwerk, dessen Partner schwerstkranke und sterbende Menschen durch Palliativmedizin und Hospizarbeit begleiten.
Der Haus- und Palliativarzt Dr. Klaus Blum engagiert sich in Bochum im Palliativnetzwerk, dessen Partner schwerstkranke und sterbende Menschen durch Palliativmedizin und Hospizarbeit begleiten. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Sie habe in der Pandemie beides erlebt. Einen Infizierten, der mit Lebenswillen und ohne Vorerkrankung ins Krankenhaus kam, wo er trotz Beatmung verstarb. Und eine Frau, die trotz Zureden mit Covid 19 im Heim habe bleiben wollte. In dem Fall sei ein Palliativmediziner ins Boot geholt worden, der die Symptome linderte. „Die Frau ist bis zum Schluss von ihrem Angehörigen besucht worden, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen“, erinnert sich Finke. Mit doppelten Handschuhen, Schutzkittel, Maske und Schutzschild am Sterbebett. Auch das ist Corona.

80 Prozent der sehr alten Covid-19-Patienten sterben trotz Intensivstation

Die Bochumer PalliativmedizinerKlaus Blum und Birgitta Behringer gehören zu den Ärzten, die Schwerkranke in ihren letzten Lebenstagen behandeln. Sie unterstreichen: Ob ein Heimbewohner intensivmedizinisch oder palliativ behandelt werde, sei immer ein fachlicher und menschlicher Entscheidungsprozess, in dessen Zentrum der Patientenwille stehe - auch in der Pandemie. Kann jemand diesen nicht mehr äußern, schauen Mediziner auf schriftliche Erklärungen wie eine Patientenverfügung, rufen Angehörige, Vertreter und Hausärzte an.

Und sie blicken auf die Perspektive: 80 Prozent der sehr alten Covid-19-Patienten, die auf den Intensivstationen beatmet würden, sterben dennoch, sagt Blum.

Hat sich der Blick des Mediziners mit der Pandemie also geändert? „Nein, es geht und ging um die Frage: Mit welcher Perspektive ist es im Sinne des Patienten, aus seinem gewohnten Umfeld heraus in ein Klinikum zu kommen? Wann ist fachlich und menschlich in seinem Sinne zu entscheiden, nicht alles zu tun, was intensivmedizinisch möglich ist.“

Wo Heimbewohner sterben, wird beim Robert Koch Institut nicht erfasst

Birgitta Behringer sagt, es werde mit sehr großer Umsicht besprochen, ob jemand in ein Krankenhaus komme oder ihm schon der Ortswechsel sogar schaden könnte. Wieder und wieder werde sich versichert, ob sich am Patientenwillen etwas geändert habe. Hat jemand lebenserhaltende Maßnahmen pauschal ausgeschlossen, müsse man also hinterfragen, ob er mit Covid 19 nicht doch noch ins Krankenhaus wolle, sagt die Medizinerin: „Wenn es darum gehe, jemanden vorübergehend intensivmedizinisch zu behandeln, um seinen alten Zustand wiederherzustellen, gibt es Heimbewohner, die diesen Versuch dann doch unternehmen wollen.“

Dr. Birgitta Behringer MA, Haus- und Palliativärztin in Bochum.
Dr. Birgitta Behringer MA, Haus- und Palliativärztin in Bochum. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Wie viele infizierte Heimbewohner in NRW „die Kliniken nicht erreicht haben“, lässt sich kaum klären: Den Todesort erfassen weder das Robert-Koch-Institut noch das NRW-Gesundheitsministerium.

Auch ist schwer zu sagen, ob es eine Übersterblichkeit in den Heimen gibt. Laut Bundesstatistikamt sind im Januar 29 Prozent mehr über 80-Jährige verstorben als im Durchschnitt der vier Vorjahre in diesem Monat – solche Angaben zu Heimbewohnern gibt es nicht. Statistiker der AOK Rheinland/Hamburg verweisen auf die wachsende Anzahl Pflegebedürftiger generell: Rechnet man das hinzu, ist die Sterberate von über 80-jährigen pflegebedürftigen AOK-Versicherten seit 2017 von 10,84 auf 9,04 Prozent sogar gesunken.

Natürlich ist nicht klar, wie diese Zahl ohne die Corona-Maßnahmen ausgesehen hätte.

Heimbetreiber verweisen auf eigene Statistiken: Wir haben keine Übersterblichkeit

Trotzdem könnte aus Sicht der Altenheimbetreiber die Unterstellung haften bleiben, dass gerade in der Hochphase der zweiten Welle hochbetagte Corona-Infizierte weniger intensivmedizinische Hilfe erhalten haben, um Kapazitäten für Jüngere zu sichern. Silke Gerling, die beim Diakoniewerk in Essen für die Senioren- und Behindertenhilfe zuständig ist, weist das entschieden zurück. „Solch eine Haltung ist nicht einmal die Ausnahme. Sie entspricht nicht unserer alltäglichen Arbeit“, sagt die Sprecherin der Arbeitgeberinitiative Ruhrgebietskonferenz-Pflege.

Einige Träger verweisen auf interne Statistiken: Für über 70 Heime im Revier kann die Ruhrgebietskonferenz sagen, dass es dort 2020 im Vergleich zu den Vorjahren nicht überdurchschnittlich mehr Todesfälle gegeben habe. Die Duisburger Hospizkoordinatorin Claudia Finke sagt das auch für ihr Seniorenzentrum. Sie wolle nichts verharmlosen, aber klarstellen: Ja, an Corona sterben viele Heimbewohner, aber nicht mehr Menschen als in den Vorjahren aufgrund anderer Umstände. Mehr als die Hälfte der Neubewohner verstirbt ein Jahr nach Einzug ins Heim, hat die Barmer Gesundheitskasse 2019 ausgerechnet hat.

Finke weiß, dass das für Angehörige nur wenig Trost ist. Sie hat selbst im Pandemiejahr einen Familienangehörigen verloren, der im Heim gelebt hat. „Ich weiß, wie das ist, wenn man mit dicker Plastikschutzfolie ummantelt am Bett eines geliebten Menschen steht. Das ist nicht schön.“ Aber sie habe auch erlebt, was Heime möglich machen, damit Sterbende nicht allein sein müssen. „Auch in der Pandemie, auch im ersten Lockdown durfte ich jeden Tag kommen. Meine Oma ist nicht allein gestorben.“