Essen. Im zweiten Lockdown bangen Studierende wieder um ihre Jobs. Kai Gehring: „Wenn wir nicht gegensteuern, wird Corona zur Bildungskrise“

Die Corona-Krise stürzt viele Studierende in Finanznöte. Im zweiten Lockdown fallen erneut viele Nebenjobs weg, auf die ein großer Teil der Studierenden angewiesen ist. Die Grünen sehen die Studienfinanzierung in einer tiefgreifenden Krise, da immer weniger Studierende Bafög erhalten. Sie fordern nun einen „Neustart des Bafög“ mit einer Grundsicherung für alle Studierenden und Azubis. Christopher Onkelbach fragte den hochschulpolitischen Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion und Essener Bundestagsabgeordneten Kai Gehring , wie das aussehen soll.

Wie beurteilen Sie die aktuelle finanzielle Lage der Studierenden in der Coronakrise?

Kai Gehring: Die Corona-Pandemie hat schonungslos den großen Handlungsbedarf bei der Studienfinanzierung aufgedeckt. Schon vor der Krise erhielten fast 90 Prozent aller Studierenden kein Bafög, 60 Prozent arbeiteten nebenher. Viele von ihnen in der Gastronomie oder im Veranstaltungsbereich, also in solchen Branchen, die besonders schwer vom Lockdown betroffen sind. Unzählig sind die Zahl der Hilferufe, die mich erreicht haben – von Studierenden, Hochschulen, Verbänden. Bildungsministerin Anja Karliczek ignoriert den Handlungsbedarf und redet ihn seit Jahren klein – das ist chancenungerecht und empathielos.

Aber es gibt doch das Bafög bedürftige für Studierende…?

Von den drei großen Säulen der Studienfinanzierung – Elternunterstützung, eigene Erwerbstätigkeit und Bafög – hat das Bafög in den letzten Jahren systematisch an Bedeutung verloren . Selbst bei den ärmsten Studierenden ist es auf den letzten Platz der drei Finanzierungsquellen zurückgefallen. Das Bafög, wie wir es kennen, ist abgestürzt. Darum brauchen wir dringend einen Bafög-Neustart mit einer Grundsicherung für Studierende und Auszubildende.

War das Überbrückungsgeld des Bundes von 500 Euro im Monat eine nachhaltige Nothilfe?

Nein, es überbrückt und hilft kaum. Es gibt einen riesigen, ungestillten Bedarf an wirksamer Unterstützung . Das leisten weder der KfW-Studienkredit, der zu Verschuldung führt, noch die inmitten der Pandemie ausgelaufene Überbrückungshilfe. Wenn die Hälfte der Anträge auf Corona-Überbrückungshilfe abgelehnt wurde, weil die finanzielle Notlage schon vor der Pandemie bestand, dann muss das Union und SPD doch zu denken geben. Wenn wir nicht gegensteuern, wird Corona zur Bildungskrise.

Muss nach Ihrer Ansicht das Überbrückungsgeld neu aufgelegt werden?

Dass Bildungsministerin Karliczek inmitten der Pandemie die miserabel ausgestattete Überbrückungshilfe für Studierende eingestellt hat, zeugt von Instinkt- und Verantwortungslosigkeit. Die Ministerin hat weder Verständnis noch Mitgefühl für die Lage der Studierenden besonders aus einkommensarmen Elternhäusern. Wenn die Bundesregierung weiter nur auf untaugliche Corona-Hilfen setzen anstatt die Studienfinanzierung nachhaltig zu stärken, droht das viele Studierenden in den Studienabbruch zu treiben.

Warum sinkt die Zahl der Bafög-Empfänger seit Jahren?

Seit der letzten großen Bafög-Reform vor 20 Jahren gab es nur halbherzige und unzureichende Reparaturen. Die 26. Bafög-Novelle war von der Koalition als Trendwende angekündigt, das Gegenteil ist eingetreten: Im letzten Jahr erhielten nur noch 11 Prozent aller Studierenden Bafög, so wenig wie nie zuvor. Und obwohl viele Studierende und Eltern aufgrund der Corona-Pandemie weniger Geld zur Verfügung haben – etwa durch Jobverlust oder Kurzarbeit – rechnet die Bundesregierung auch 2021 mit einem weiteren Rückgang. Ein Bafög-Neustart mit einer Grundsicherung für Studierende und Auszubildende ist überfällig.

Was sind die wesentlichen Vorteile Ihres Bafög-Konzepts?

Mit dem Garantie-Betrag und dem variablen Bedarfszuschuss erhalten die Studierenden mehr als nur Geld: Sie bekommen Zeit, sich aufs Studieren zu konzentrieren. Die Grundsicherung von 290 Euro für alle Studierende ist eine grundlegende Modernisierung der staatlichen Studienfinanzierung in Deutschland. Sie reagiert auf die vielfältigen Lebens- und Studienrealitäten und bringt all denen Verbesserungen, die bisher Probleme bei der Finanzierung ihres Studiums hatten. Studierende aus der unteren und mittleren Mittelschicht werden sich ebenfalls besserstellen. Damit tragen wir auch zur Überbrückung des Mittelschichtslochs im heutigen Bafög bei. Und für Familien mit mehreren Kindern ist besonders der neue Garantie-Betrag eine Erleichterung.

Würde dadurch die Zahl der Bafög-Empfänger wieder steigen?

Ja, denn Garantiebetrag und Bedarfszuschuss müssen nicht zurückgezahlt werden, so dass sich Studierende künftig nicht mehr verschulden müssen. Mit Schulden ins Berufsleben zu starten, ist gerade für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern mit großen Sorgen verbunden. Die Grundsicherung eröffnet Studierenden, die von Hause aus wenig Geld haben, ein sorgenfreies Studium, ohne Zwang zum studienzeitverlängernden Nebenjob.

Wie hoch wären die Mehrkosten gegenüber dem bestehenden System?

Durch die Grundsicherung für Studierende und Auszubildende entstehen jährliche Mehrkosten gegenüber dem heutigen System aus Kindergeld, Kinderfreibeträgen und Bafög von rund zwei Milliarden Euro. Damit fördern wir Bildungsgerechtigkeit und ermöglichen jedem jungen Menschen die Wahlfreiheit, sich nach den eigenen Neigungen für einen beruflichen oder akademischen Bildungsweg zu entscheiden.

Halten Sie Ihr Bafög-Modell für politisch durchsetzbar und realisierbar?

Als Gesellschaft müssen wir für die Studierenden da sein, ihnen Halt und Sicherheit geben. Je stärker wir werden, umso größer werden die Chancen auf Strukturreformen für mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Bildung. Im nächsten Jahr wird das Bafög 50, ohne umfassende Neuaufstellung wird der Geburtstag kein reines Freudenfest. Ohne Umsteuern bei der Bildungsfinanzierung, riskieren wir die Teilhabechancen der jungen Generation und den Wohlstand des gesamten Landes.

>>>> Das Bafög-Modell der Grünen

Das von Kai Gehring erarbeitete Bafög-Modell der Grünen basiert auf zwei Säulen: Einem „Garantie-Betrag“ von 290 Euro im Monat, den alle Studierenden unter 25 Jahren direkt ausgezahlt bekommen. Im Gegenzug fällt das Kindergeld für die Eltern weg.

Die zweite Säule ist ein „Bedarfszuschuss“, der abhängig vom Einkommen gezahlt wird. Ein Studierender kann maximal 1062 Euro erhalten. Der Zuschuss soll nicht zurückgezahlt werden müssen, um Verschuldungen zu verhindern.