Essen. Brennpunktschulen sollen künftig mehr Stellen und Mittel erhalten. Schulleiter kritisieren: Das Verteilsystem geht am Bedarf vorbei

Es soll das zentrale politische Instrument werden, um Schulen in sozialen Brennpunkten zu helfen und für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen: Ab dem kommenden Schuljahr sollen nach Plänen der Landesregierung Schulen in sozialen Brennpunkten gezielter und gerechter mit Geld und Personal ausgestattet werden. Doch ausgerechnet jene, die davon am meisten profitieren würden, sind überhaupt nicht begeistert: „Die haben uns glatt vergessen“, wundert sich der Schulleiter einer Gesamtschule in Gelsenkirchen Ückendorf – eine der vielen sogenannten Brennpunktschulen im Ruhrgebiet.

Ende August hatte das NRW-Schulministerium den neuen „schulscharfen Sozialindex“ vorgestellt. Damit kam die Landesregierung einer seit Jahren erhobenen Forderung von Schulleitern, Lehrerverbänden und Gewerkschaften entgegen: Ungleiches müsse ungleich behandelt werden. Doch vor allem unter den „Brennpunktschulen“ macht sich Enttäuschung breit, noch bevor der neue Index in Kraft getreten ist.

Sozialindex miss Förderbedarf jeder Schule

Mit dem schulscharfen Sozialindex könne das Land jetzt exakt messen, wie hoch die Belastung der einzelnen Schule tatsächlich ist und welche Ressourcen sie benötigt, hatte Schulstaatssekretär Mathias Richter angekündigt. Demnach sollen Schulen in benachteiligten Vierteln ab dem kommenden Schuljahr zusätzliche Unterstützung, mehr Lehrer und weiteres Personal erhalten. Mit Hilfe dieser neuen Datenbank könne „auf Knopfdruck“ der konkrete Sozialindex der Schule und damit auch ihr Bedarf ermittelt werden, sagte Kaiser. Dazu wird jede Schule in eine Kategorie von 1 bis 9 eingeteilt, wobei die Stufe 9 die größten Herausforderungen ausweist.

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Die Kriterien für den Index sind Kinder- und Jugendarmut, also der der Anteil der Schüler in Familien, die Sozialhilfe beziehen. Zudem der Anteil der Schüler, wo zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird, der Anteil der Schüler mit Zuzug aus dem Ausland sowie die Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt Lernen, emotionale Entwicklung oder Sprache. „Wir wollen die Mittel und das Personal nach diesen Kriterien verteilen“, kündigte Richter an. Bislang wurde die soziale Lage nicht „schulscharf“ ermittelt, sondern nur grob auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte.

Unter Schulleitern macht sich Ernüchterung breit

Vor allem Schulen in den problematischen Vierteln der Ruhrgebietsstädte haben das seit Jahren geforderte Instrument mit großen Hoffnungen erwartet. Nun ist die Ernüchterung offenbar umso größer. Der schulscharfe Sozialindex sei in der aktuellen Form ein bürokratischer Luftballon, urteilt das Bündnis von Gesamt- und Sekundarschulleitern im Ruhrgebiet, „Schule hoch drei“. „Wir glauben nicht, dass sich dadurch unsere Lage künftig verbessern wird. Ich denke, für uns wird gar nichts passieren“, sagt Erhard Schoppengerd, Leiter der Gesamtschule Globus am Dellplatz in Duisburg, dieser Redaktion.

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NRW-Schul-Staatssekretär Mathias Richter (FDP) stellte den schulscharfen Sozialindex vor.
Von Matthias Korfmann und Christopher Onkelbach

Grund für die Enttäuschung ist der aktuelle „Sachstandsbericht“ des Ministeriums für den Schulausschuss. Danach kommen insgesamt nur vier Grundschulen und sechs Hauptschulen in die höchste Förderkategorie 9 – wohlgemerkt landesweit. Bei den Gesamtschulen wird keine einzige in die höchsten beiden Kategorien 8 und 9 eingestuft. Nur zwei kommen in die Kategorie 7, aber 129 in die Top-Kategorie 2. Nach Berechnungen des Ministeriums befinden sich nur „rund drei Prozent aller Schulen in den Sozialindexstufen 7 bis 9 (höchste Belastung), wohingegen rund 75 Prozent aller Schulen den Indexstufen 1 bis 3 zugeordnete werden.“ Ist die Lage an den Schulen in NRW also besser als gedacht?

Schulleiter: Land rechnet Probleme klein

Keineswegs, meinen die Gesamtschulleiter. „Allem Anschein nach möchte das FDP-geführte Ministerium die Zahl der Schulen an besonders schwierigen Standorten klein rechnen und damit einen zusätzlichen Ressourcenbedarf minimieren“, argwöhnt Rainer Dahlhaus, Mitglied im Landesvorstand des Gesamtschulverbands GGG in NRW. Der Verband befürchtet, dass viele Gesamtschulen in Zukunft sogar schlechter dastehen könnten als zuvor.

„Soll der Eindruck entstehen, dass die Gesamtschulen in der Mehrzahl ja gar nicht so sehr belastet sind und deshalb bei der Verteilung der Stellen gemäß Sozialindex keine Ansprüche stellen können?“ Anderen Schulformen – außer den Gymnasien -- ergehe es in dem Modell ähnlich, rechnete Dahlhaus vor. „Wir haben gehofft, dass zusätzliche Mittel fließen“, sagt der Duisburger Schulleiter Schoppengerd. Doch aus den Angaben des Ministeriums werde nicht deutlich, welche Mittel zur Verfügung stehen und wie sie verteilt werden.

Verteilung der Mittel auf die Schulen noch ungeklärt

Es gebe bisher keine Festlegung, ab welcher Kategorie eine Schule zusätzliche Mittel bekommen wird, sagt auch der Bochumer Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler. Er hat mit seinem Team im Auftrag der Landesregierung die Methodik des schulscharfen Sozialindex‘ erarbeitet. „Das ist eine politische Entscheidung“, betont Schräpler, er habe nur das Modell erstellt.

Allerdings plädiert er für eine möglichst frühe Förderung, etwa ab Indexstufe 4. Damit würde die Gesamtzahl der geförderten Gesamtschulen in etwa gleich bleiben. „Man kann nicht erst ab Stufe sieben von einer Problemschule sprechen, das geht nicht“, meint Schräpler. Trotz der Kritik ist er überzeugt, dass die neue Systematik ein genaueres Bild der jeweiligen Schulsituation spiegle. „Man schert nicht mehr alles über einen Kamm.“ Die Umsetzung sei nun Sache der Politik.

Schulministerium spricht von einem "ersten Entwurf"

Das Schulministerium betont, dass noch nicht festgelegt sei, wie die Mittel verteilt werden. Bei dem Schulsozialindex handele es sich um „einen ersten Entwurf“, der sich noch in der Abstimmung befinde. „Derzeit prüft die Landesregierung sehr intensiv die konkrete Ausgestaltung und die Folgewirkungen auf das Schulsystems“, sagt Schulstaatssekretär Mathias Richter dieser Redaktion.

Die Schulleiter haben da bereits konkrete Vorschläge: Man könnte ja beispielsweise Schulen je nach Sozialindex bevorzugt mit digitalen Medien ausstatten oder bei Sanierungen und Bauten berücksichtigen, schlug die Initiative der Ministerin vor. „Vieles ist möglich, um Ungleiches ungleich zu behandeln.“

Schoppengerd: „Wir befürchten, dass Schulen, die es wirklich brauchen, nichts bekommen.“ Für ihn und seine Kollegen ist der schulscharfe Sozialindex bislang „nur junger Wein in alten Schläuchen“.

>>>> Die Verteilung der Stellen

Bisher wurden zusätzliche Ressourcen nach dem Kreissozialindex verteilt. Dieser misst die soziale Belastung von ganzen Schulamtsbezirken, also von Kreisen und Städten. Insgesamt wurden nach Angaben des Schulministeriums zuletzt 4510 Stellen – Lehrer, Sozialpädagogen, Integrationshelfer -- nach diesem Index verteilt.

Diese Stellen sollen möglichst ab dem Schuljahr 2021/22 zielgenauer über den schulscharfen Sozialindex vergeben werden Danach sollen auch die sozialpädagogischen Fachkräfte verteilt werden, dabei handelt es sich nach Angaben des Schulministeriums um 2400 Stellen.