Düsseldorf. Das gab es noch nie: NRW kann jetzt messen, was jede Schule braucht. Staatssekretär Mathias Richter (FDP) erklärt, wie es funktioniert.

Schulen in benachteiligten Vierteln sollen spätestens ab dem nächsten Schuljahr zusätzliche Unterstützung, mehr Lehrer und anderes Personal erhalten. Das ist das Ziel des neuen „schulscharfen Sozialindex“ der Landesregierung. Mit Hilfe dieses Instruments kann „auf Knopfdruck“ der konkrete Index und damit auch der Bedarf jeder Schule in NRW ermittelt werden, bislang geschah dies nur grob auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte.

Damit kommt die Landesregierung einer seit Jahren erhobenen Forderung von Schulleitern, Lehrerverbänden und Gewerkschaften nach. Zum Start 2021/22 könnten die ersten rund 2200 Stellen nach den neuen Kriterien vergeben werden, erläutert Schul-Staatssekretär Mathias Richter im Gespräch mit Matthias Korfmann und Christopher Onkelbach.

Herr Richter, warum wurde ein schulscharfer Sozialindex nötig?

Mathias Richter: Das Ziel der Landesregierung ist es, soziale Nachteile im Bildungsbereich zu überwinden. Der schulscharfe Sozialindex soll Kindern und Jugendlichen gerechtere Bildungschancen ermöglichen. Schule ist ja mehr als nur Unterricht. Sie muss auch soziale Ungleichheit und unterschiedliche Herkunft berücksichtigen. Daher wollen wir die Mittel und das Personal auch nach diesen Kriterien verteilen.

Was ist der Unterschied zur bisherigen Regelung?

Matthias Richter: Bislang wurden zusätzliche Ressourcen oftmals nach dem Kreissozialindex verteilt. Dieser misst die soziale Belastung von Schulamtsbezirken, also von ganzen Kreisen und kreisfreien Städten. Insgesamt 4500 Stellen haben wir in diesem Schuljahr nach diesem Index verteilt. Kriterien sind die Arbeitslosenquote, die Sozialhilfequote, der Anteil der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte sowie der Anteil der Wohnungen in Einfamilienhäusern. Doch dieser Index ist nicht exakt genug. Eine Schule im Essener Norden beispielsweise hat andere Herausforderungen zu bewältigen als eine Schule im Essener Süden.

Wie funktioniert der schulscharfe Sozialindex?

Mathias Richter: Das Konzept wurde federführend von dem Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr-Uni Bochum und dem Landesinstitut QUA-LiS erarbeitet. Das System ermittelt tatsächlich für jede einzelne Schule in NRW den Bedarf. Die Schulen werden in Kategorien von Eins bis Neun eingeteilt, wobei neun die größten Herausforderungen ausweist. Wir können jetzt quasi auf Knopfdruck den Sozialindex aller Grundschulen in Essen ermitteln oder der Gymnasien in Köln. Das ist eine sehr leistungsfähige digitale Datenbank, die in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird. Ziel ist es, die Ressourcen zielgenau zu steuern.

Nach welchen Kriterien werden Mittel verteilt?

Die Kriterien sind Kinder- und Jugendarmut, also der Anteil der Schüler in Familien, die Sozialhilfe beziehen. Zudem der Anteil der Schüler, in deren Familien nicht Deutsch gesprochen wird, der Anteil der Schüler mit Zuzug aus dem Ausland sowie die Zahl der Schüler mit dem sonderpädagogischem Förderschwerpunkt Lernen, emotionale Entwicklung oder Sprache.

Wie viele Stellen sind zu verteilen?

Mathias Richter: Bislang haben wir rund 4500 Stellen über den Kreissozialindex vergeben, das sind Lehrerstellen, Sozialpädagogen, Fachkräfte für Integration. Diese Stellen sollen nach und nach über den neuen Index vergeben werden. Dabei wollen wir vermeiden, dass es zu Brüchen kommt. Allein die Zahl der sozialpädagogischen Fachkräfte an Grundschulen wird von derzeit 1750 bis zum Schuljahr 2025/26 auf 3000 Stellen wachsen. Auch diese könnten zusätzlich über einen schulscharfen Sozialindex zur Verteilung kommen.

Wann tritt der Index in Kraft?

Mathias Richer: Frau Ministerin Gebauer hat das Thema für die nächste Sitzung des Schulausschusses am 9. September zur erstmaligen Vorstellung bei den zuständigen Abgeordneten angemeldet. Danach sollen auch Wissenschaftler und Experten das System erläutern und diskutieren.Über diesen aktuellen Stand wird dann auch die Schulaufsicht informiert, damit der schulscharfe Sozialindex bei der Zuweisung von Stellen und Personal auch schon in diesem Schuljahr berücksichtigt werden kann. Ich gehe davon aus, dass ab dem Schuljahr 2021/22 die ersten 2200 Stellen nach dem neuen schulscharfen Sozialindex vergeben werden können.

Werden dabei Mittel unter den Schulen umverteilt?

Mathias Richter: Nein, wir wollen keine Verteilungskonkurrenz. Keiner Schule wird aufgrund des schulscharfen Sozialindexes etwas weggenommen, denn es geht um Stellen für Zusatzbedarfe für Schulen mit besonderen Herausforderungen. Dabei muss es nicht nur um Personal gehen, es kann sich auch um zusätzliche Mittel für Fortbildungen, Beratung oder Projekte handeln. Das werden wir noch erörtern und dann entscheiden.

Schulen, die in Kategorie Neun fallen, könnten sich abgestempelt fühlen…

Mathias Richter: Ich will keine Stigmatisierung von Schulen. Ein Schul-Ranking wird es nicht geben. Der Sozialindex ist keine Sozialtabelle, sondern ein Maßstab für die Herausforderung, die eine Schule meistern muss. Es gibt viele Schulen, die in einem sehr schwierigen Umfeld arbeiten und dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen hervorragende Arbeit leisten. Das zu betonen, ist mir wichtig.

Wenn nun die Mittel zielgenau an Schulen mit großen Herausforderungen fließen werden – ist dann der Schulversuch Talentschulen überflüssig geworden?

Mathias Richter: Nein. Mit den Talentschulen wollen wir Schulen in schwierigen Lagen unter Mitwirkung außerschulischer Partner und der zuständigen Schulträger bei der Entwicklung besonderer Schulprofile sowie neuer Unterrichtskonzepte unterstützen und dies exemplarisch erproben. Sie erhalten dafür 20 Prozent mehr Stellen. Es geht uns aber nicht nur um 60 Talentschulen. Beim neuen Sozialindex geht es um die systematische Unterstützung aller Schulen im Land. Das ist eine klare Botschaft der Landesregierung. Zudem bezieht der Sozialindex anders als beim Talentschulversuch auch die Grundschulen mit ein.

Ungleiches ungleich behandeln – damit setzen Sie eine alte Forderung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft um.

Mathias Richter: Wir setzen einen Punkt aus dem Koalitionsvertrag dieser Landesregierung und aus meinem Themenfeld im Rahmen der Ruhrkonferenz um. Wir freuen uns dabei über jede Unterstützung. Mit den Arbeiten haben wir direkt 2017 begonnen. Die Coronakrise hat die Umsetzung ein wenig verzögert, aber jetzt sind wir startklar für eine gezielte Unterstützung aller Schulen in NRW. Was Rot-Grün sieben Jahre unterlassen hat, setzt die FDP im Schulministerium nun um.