Essen/Dortmund/Duisburg. Zwischen Hygieneplänen, Sorge um die Schüler und spätabendlichen Mails: Corona hat den Alltag der Schulen durcheinandergebracht. Ein Protokoll.
Freitag, 13. März, mittags:
An der Duisburger Grundschule Zoppenbrückstraße ist der Unterricht für die rund 200 Schüler um 12.45 Uhr zu Ende. Rektor Martin Fey sitzt noch am Schreibtisch, als eine Mail des Schulministeriums eingeht. Das Land NRW wird die Schulen schließen, heißt es, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Schüler sollen noch bis Dienstag betreut werden, danach nur, wenn die Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten.
Fey schaut auf die Uhr und ist wie vor den Kopf gestoßen: Es ist 13.33 Uhr. Für Elternbriefe war es viel zu spät, Kontakt gibt es nur über die Schulpflegschaft, auch viele der 15 Lehrerkollegen sind nicht mehr im Haus. Er telefoniert, schreibt Mails. „Es war völlig offen, wie viele Kinder am Montag tatsächlich zur Schule kommen würden und wie es ab Mittwoch weitergeht.“
In Essen sitzt Julia Klewin bereits seit Stunden am Telefon: Die Oberstudienrätin und Lehrerin der Klasse 8c an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule muss 80 Firmen abtelefonieren, um Praktika ihrer Schüler abzusagen. Vor ihrer Klasse hatte sie noch kurz vorher gestanden. „Nehmt eure Bücher mit“, sagt die 36-Jährige und behält Recht mit der Vorsicht.
In Dortmund ist Christof Birkendorf irritiert. Gerade noch hatte der Dortmunder Realschullehrer Arbeiten seiner Klasse 8b kontrolliert, als die Nachricht der Schulschließung bekannt wird. „Ich hatte erwartet, dass die Schulen sofort geschlossen werden und Montag nicht noch mal öffnen.“ Corona ist für Birkendorf seit Wochen ein Thema. Er ist gesundheitlich angeschlagen. „Ich halte deshalb immer Abstand.“
Schulmail Nummer 5 kommt um 20.50 Uhr am Sonntagabend
Sonntag, 15. März, abends:
Eigentlich schaut Schulleiter Martin Fey um diese Zeit nicht mehr in seine Mails, diesmal aber schon: Um 20.50 Uhr erreicht ihn Schulmail Nummer 5 mit näheren Informationen zur Notbetreuung. Außer zu grübeln bleibt dem Schulleiter um diese Zeit nichts.
Montag, 16. März, morgens:
An der Gustav-Heinemann-Gesamtschule im Essener Norden stehen eine Handvoll Schüler. Sie hatten nichts von der Schließung mitbekommen oder wollten vergessene Materialien abholen. 50 Prozent der Schülerschaft kommt aus Familien, die Arbeitslosengeld beziehen, sagt Klewin „In jeder Klasse gibt es ein, zwei Familien, die wir grundsätzlich im Schulalltag nicht erreichen.“ Die Lehrer waren indes gut vorbereitet. Ein Team hatte schon vor Tagen erfasst, wer für den Präsenzunterricht bleiben könnte, wenn es hart auf hart kommt.
Notbetreuung organisieren innerhalb von zwei Tagen
In Duisburg steht Martin Fey vor der Aufgabe, innerhalb von zwei Tagen eine Notbetreuung und erstmals in 21 Jahren als Schulleiter Lehre auf Distanz zu organisieren. „Es kamen tausende Fragen auf.“
Mittwoch, 18. März:
An der Gustav-Heinemann-Gesamtschule Essen erhalten die Lehrer erstmals überhaupt dienstliche E-Mail-Adresse. Damit können sie ihre Schüler kontaktieren, ohne den Datenschutz zu gefährden. Auf der Internetseite der Schule werden Unterrichtsmaterialen hochgeladen. „Die eigentliche Arbeit war unserer Schüler zu motivieren“, sagt Klewin. „Wir wussten ja alle nicht, wie es weitergeht.“
In Duisburg besuchen sieben Kinder die Notbetreuung der Grundschule Zoppenbrückstraße. Ob mehr Anspruch darauf hätten, weiß Fey nicht: „Ich konnte nicht sicherstellen, dass ich alle Eltern erreicht habe.“ Für daheim gebliebene schnüren Lehrerinnen Pakete mit Aufgabenblättern und Briefen. In den nächsten Tagen zeigt sich, dass nicht alle abgeholt werden.
Donnerstag, 19. März:
Digital zu unterrichten, darauf ist die Realschule von Christof Birkendorf noch nicht eingestellt. Der 50-Jährige versucht als Risikopatient weiter von zu Hause aus, alle seine Schüler zu kontaktieren. „Ich unterrichte in der Nordstadt, da haben die Kinder keine Laptops oder Eltern, die ihnen sagen, sie sollten mal ihren Lehrer anrufen. Es hatte nicht mal jeder eine aktuelle Handynummer geschweige denn eine E-Mail-Adresse.“
Hausaufgaben werden fotografiert und gemailt
Es wird bis in die Osterferien hinein dauern, bis er wirklich alle Schüler direkt erreichen kann. Selbst danach wird es problematisch: Die Jugendlichen fotografieren ihre erledigten Hausaufgaben und mailen sie zu. Die Abbildungen sind oft schwer zu lesen. Korrekturen erfolgen per Mail.
Freitag, 20. März, nachmittags:
Nach drei Tagen Notbetreuung erweitert das Land NRW den Kreis der Berechtigten. Der Duisburger Schulleiter Fey erfährt davon um 15.48 Uhr in einer Schulmail. „Das sollte am darauffolgenden Montag umgesetzt werden. Das war nicht zu schaffen.“ In den folgenden Wochen erweitert das Land die Gruppe der Berechtigten. Die Schulen sollen sich auf der Seite des Schulministeriums auf dem Laufenden halten, berichtet Fey. „Irgendwann habe ich es aufgegeben.“
Montag, 30. März:
Die Abiprüfungen sollen verzögert stattfinden – oder nicht? Ein Interview mit NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) lässt schon wieder Zweifel aufkommen. Klewin, die in der Oberstufe Sozialwissenschaften und Englisch lehrt, erlebt, was das Hin und Her mit den Schülern macht: „Sie hat das sehr verunsichert.“
Freitag, 3. April:
Letzter Schultag vor den Osterferien. Wie es weitergeht, heißt es da, soll am 15. April bekannt werden.
Mittwoch, 15. April, abends:
Die erhoffte Mail erreicht Martin Fey in Duisburg spät am Abend: Ab dem 23. April sollen Abschlussklassen wieder in die Schule kommen, am 4. Mai die Viertklässler. Fey atmet auf: „Das ist realistisch.“
In Dortmund wird Christof Birkendorf nervös: Er hat eine Abschlussklasse in Mathematik. „Ich habe sofort der Schulleitung geschrieben, dass ich nicht in den Unterricht gehen kann. Das Risiko, mich anzustecken, war mir zu groß.“ Eine Mail geht an verschiedene Politiker, auch an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), in der Birkendorf zwölf Punkte aufführt, warum er Präsenzunterricht an den Schulen für sehr problematisch hält. Am Sonntag erklärt das Land, welche Lehrer zur Risikogruppe gehören. Birkendorf zählt dazu. Die Probleme an den Schulen bleiben für Birkendorf bestehen.
Warum muss sich jede Schule ihre Hygienepläne ausdenken?
Donnerstag, 23. April
Abiturienten dürfen wieder in die Schulen. Ministerin Gebauer spricht von einem wichtigen Signal in Richtung verantwortungsvoller Normalität. Lehrerin Klewin spricht von „preußischen Verhältnissen“ an ihrer Gesamtschule in Essen. Die Schüler laufen in Reih und Glied durch markierte Eingänge, sie tragen Maske, viele sind verunsichert. Klewin unterrichtet frontal an der Tafel.
In Duisburg hat Schulrektor Fey bereits zahlreiche Telefongespräche und Videokonferenzen hinter sich, um mit der Stadt den Hygieneplan abzustimmen. „Mir hat sich nicht erschlossen, warum sich das jede Schule selbst ausdenken muss.“
Donnerstag, 30. April, mittags:
Am Tag vor dem langen Wochenende erhält Martin Fey um 13.13 Uhr eine Mail des Ministeriums. Der Schulstart für die Viertklässler wird nun doch um drei Tage verschoben. Verärgert ist Fey über diesen Satz: Ab dem 11. Mai sollen die Kinder aller Jahrgangsstufen tageweise in einem rollierenden System in die Schulen gehen können.
Fey blieb eine Woche Zeit, das für 200 Kinder und 15 Lehrer und Lehrerinnen zu organisieren. Er ist wütend: „Diese kurzfristige Informationspolitik ist katastrophal.“ Um 22.18 Uhr folgte der Rückpfiff, dass alle Regelungen vorbehaltlich der Beratung mit der Kanzlerin am 6. Mai seien. Fey fängt trotzdem am Montag mit seinem Team an, zu planen – mit dem Risiko, alles wieder über Haufen werfen zu müssen.
Zwischen Sorge und Dankbarkeit
Mittwoch, 6. Mai:
Bundeskanzlerin Merkel sagt, die erste Phase der Pandemie liege hinter Deutschland. In Duisburg sitzt Martin Fey vor dem Fernseher. Am nächsten Tag soll der Unterricht für die 4. Klassen beginnen, in fünf Tagen soll die Schule für alle Kinder tageweise losgehen. Er ist besorgt, ob das gelingen kann. Und auch dankbar. „Wir wussten, wie viel manchen Kindern verloren gegangen war.“
An der Gustav-Heinemann-Gesamtschule steckt das Orga-Team seit Montag die Köpfe zusammen: Wie sind 1300 Schüler künftig tageweise zu unterrichten, wenn 20 Prozent der Lehrer im Präsenzunterricht ausfallen? Es werden Raum- und Hygieneregeln geklärt, parallel laufen die Planungen für die Abiturprüfungen. „Eine Glanzleistung unseres Orga-Teams“, findet Klewin.
Montag, 11. Mai
Gleich am ersten Schultag merkt Fey, wie hin- und hergerissen die Eltern sind. Der Unterricht ist auf die Kernfächer Deutsch, Mathe und bisschen Sachunterricht beschränkt. Richtig Unterricht gab es zunächst aber nicht, es gibt viele Probleme mit den Kindern zu besprechen.
Für Fey rächt sich in der Corona-Krise, was in der Bildungspolitik versäumt wurde: „Mit kleineren Klassen, genügend großen Räumen und einer ausreichenden Zahl von Lehrern wären wir mit der Krise besser klargekommen.
Dienstag, 12. Mai
Die Abiturprüfungen starten verspätet in NRW. Julia Klewin ist um ihre Schüler besorgt. „Wenn Eltern in Kurzarbeit sind, viele Geschwister zu Hause leben, ist das sehr belastend.“
Bei Schulmail 23 "ist mir der Kitt aus der Brille gefallen"
Im Mai
Die 36-jährige Klewin unterrichtet jetzt auch im zehnten Jahrgang, weil Lehrer fehlen. Sie betreut zugleich vorerkrankte Schüler digital, steht vor ihrer achten Klasse und korrigiert Abitur-Prüfungen. Personell ist die Schule an der Belastungsgrenze angelangt, sagt sie. Inzwischen fühle sie sich wie in einem zeitlichen Vakuum: „Seit Mitte März verlaufen die Dinge so schnell, manche Ankündigungen waren auch widersprüchlich, da verliert man den Überblick.“
Freitag, 5. Juni, morgens:
Die Schulmail 23 erreicht Schulleiter Fey um 9.18 Uhr und sie hat es in sich: Am Montag in einer Woche solle die Grundschule wieder für alle Kinder geöffnet werden. „Da ist mir der Kitt aus der Brille gefallen“, sagt Fey. Gerade habe sich das rollierende System eingespielt, warum wird das für zwei Wochen noch einmal durcheinandergewirbelt? „Und wie erkläre ich den Kindern, dass nach Wochen des Abstandsgebots genau das plötzlich nicht mehr gilt?“ Bei Fey melden sich viele Eltern.
Mittwoch, 10. Juni
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NRW-Schulministerin Gebauer erklärt der Presse, dass ab sofort allen Schulen die erweiterte Lernplattform Logineo zur Verfügung stehe. An der Dortmunder Realschule von Christof Birkendorf kommt das ein paar Wochen zu spät. Die Schule hat sich selbst geholfen und mit Google Classroom eine eigene Lernplattform eingerichtet, über die Schüler ihre Aufgaben permanent abzurufen können.
Samstag, 20. Juni
Zeugnisübergabe an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Essen. Julia Klewin hat sich eine Überraschung überlegt: Sie holt Politiker, Lehrer und bekanntere Essener vor die Kamera und zeichnet Videobotschaften für die 44 Abschlussschüler auf. „Das kam ganz gut an, glaube ich.“
Sommerferienprogramm kam für viele zu spät
Dienstag, 23. Juni
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Noch drei Tage bis zu den Sommerferien. Das Land NRW erklärt, wie es zusätzliche Ferienprogramme für Schüler fördern will. „Die Notwendigkeit dazu habe ich schon in den Osterferien gesehen, ich habe absolut kein Verständnis dafür, dass das erst jetzt losgehen soll. Jetzt kriegen wir das nicht mehr geplant“, sagt der Duisburger Fey. Seine Grundschule könne da nicht mehr mitmachen.
Mittwoch, 24. Juni:
Im Landtag kündigt Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) an, dass jeder Lehrer und alle sozial benachteiligten Schüler Zugang zu Laptops oder Tablet-PCs erhalten sollen. In Dortmund ist für Realschullehrer Birkendorf die Sache klar: „Da muss ich gar nicht groß abfragen. Ich habe vielleicht eine Schülerin, in deren Familie es einen Laptop gibt. Den muss sie sich aber mit ihren zwei Geschwistern teilen.“ Richtig sei, dass die Lehrer die Vergabe organisieren sollen. „Wir kennen unsere Schüler besser als irgendwelche Ämter.“
Freitag, 26. Juni
Nach 21 Jahren räumt Martin Fey an diesem Donnerstag sein Büro: Er geht in den Ruhestand. Der Abschied sollte still verlaufen, immerhin war Corona, doch das Kollegium wollte es anders. Rund um die Schule verteilt warteten Zehner-Grüppchen, Eltern, Kinder und Lehrer, mit Geschenken und lieben Worten. „Das hat mich sehr gerührt, das werde ich nicht vergessen.“ Er blickt sorgenvoll auf das nächste Schuljahr: „Die Kinder werden nicht einfach mit dem Unterrichtsstoff der nächsten Klassen anfangen können, es ist viel aufzuholen.“
In Dortmund ist Christof Birkendorf skeptisch, ob die 5500 Schulen in NRW tatsächlich nach den Ferien wieder für den Regelunterricht geöffnet werden können. „Ich sehe weiter das Risiko in den Klassenräumen, insbesondere wenn es keinerlei Abstandsregeln mehr gibt.“
In Essen wünscht sich Julia Klewin indes, dass der Normalbetrieb wieder beginnt. „Wir verlieren viele Schüler aus dem Stadtteil. Schule ist für sie auch ein Rückzugsort.“ Andererseits sei da die Sorge vor dem, was kommt.