Selm. Innenminister Reul stärkt die “ethische Bildung“ - damit Polizisten auf der Straße und in der Konfrontation mit dem Grauen nervenstark sind.

Die heruntergebrannten Trauerkerzen stehen noch am Fuße des „Wächters“, einer massiven Stahlskulptur vor dem „Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge“ der NRW-Polizei. Mitte Mai wird ein 28-jähriger SEK-Beamter bei einer Routinefestnahme in Gelsenkirchen von einem Drogendealer erschossen. So etwas gilt bis dahin als unvorstellbar, weil die Spezialkräfte eine Elite sind unter den 50.000 Polizisten in NRW und für viel kompliziertere Einsätze geschult. Es ist trotzdem passiert.

Wenn die Beamten nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen, versammeln sie sich zu gemeinsamen Gedenkveranstaltungen vor dem „Wächter“. Es ist ein Koloss von Schutzpatron auf dem Gelände des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) in Selm, wo das Ruhrgebiet sanft ins Münsterland übergeht. Vorfälle wie in Gelsenkirchen machen es nicht ganz leicht, unvoreingenommen, friedfertig und bürgerfreundlich in den nächsten Einsatz zu gehen.

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Deshalb gibt es in Selm jemanden wie Hauptkommissarin Lil Herholz, die für das „Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge“ arbeitet. Sie ist Streife gefahren und hat in der Einsatzhundertschaft den Kopf hingehalten. Herholz macht nicht den Eindruck einer Theoretikerin. „Wir bewegen uns in unseren Einsätzen im Spannungsfeld zwischen erwarteter Professionalität und menschlicher Unvollkommenheit. Wut, Angst, Rache, Hass – Polizisten sind Menschen, diese Emotionen haben wir auch“, sagt sie.

Die Bemühungen der NRW-Polizei um einen Wertekompass gelten als vorbildlich

Die Anstrengungen der NRW-Polizei, den Wertekompass seiner Beamten immer wieder neu zu justieren, gelten als bundesweit vorbildlich. Der frühere NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat hier viele Initiativen angeschoben, die sein Nachfolger Herbert Reul (CDU) entgegen der normalen politische Reflexe weiter verfolgt und ausbaut. Es gibt immer neue Anlässe, sich mit der mentalen Verfassung der Polizei zu beschäftigen. Die allgemeine Verrohung des gesellschaftlichen Klimas durch die Sozialen Netzwerke. Die menschlichen Abgründe, in die Polizisten jeden Tag durch den neuen Ermittlungsschwerpunkt Kindesmissbrauch schauen. Oder jetzt die aus den USA überschwappende Debatte über rassistische Polizeigewalt.

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Jeder der jährlich 2560 Kommissarsanwärter und viele erfahrene Einsatzkräfte müssen inzwischen regelmäßig nach Selm. Hier wartet zunächst der „Grenzgang“, eine Art Ausstellung, in der Polizisten mit den Herausforderungen „Randgruppen“, „Gewalt“, „Extremsituationen“ und „Tod“ konfrontiert werden. „Hier können wir ein Stück Gewissensbildung betreiben“, sagt Herholz. Ziel sei es, die Beamten über sich und ihre Belastungen ins Gespräch zu bringen. Von „seelischer Eigensicherung“ und einer „Reflexionskultur“ spricht Pfarrerin Judith Palm, die in der Polizeiseelsorge arbeitet. Das Ziel: Nicht zynisch oder übergriffig werden.

Es gebe Beamte, die nach 30 Jahren Streifendienst von Obdachlosen nur noch als „Stück Scheiße“ redeten, bekennt Herholz. Zugleich verweist sie auf zermürbende Erfahrungen im Wachdienst: „Fragen Sie einen Beamten einer Hundertschaft, wann er nicht beleidigt wird – vielleicht mal bei der Suche nach einem vermissten Kind.“ Viele Bürger sähen „nur die Uniform, nicht den Menschen dahinter“, sagt Zugtruppführer Kai Krückemeier von der Wuppertaler Polizei. Trotzdem müsse man mit Gewalterfahrung und Gewaltanwendung professionell umgehen.

"Nicht jeder klatscht in die Hände und sagt: Wir reden jetzt mal über Ethik"

Es ist für Innenminister Reul durchaus eine Herausforderung, hartgesottene Einsatzkräfte für solche Fortbildungen zu begeistern. „Es klatscht nicht jeder in die Hände und sagt: Wir reden jetzt mal über Ethik“, erzählt Hauptkommissar Philip Timmermeister vom Polizeipräsidium Recklinghausen. Doch es sei wertvoll. Auch Reul erwartet ausdrücklich Beschäftigung mit werteorientierter Polizeiarbeit. Im vergangenen Jahr hat er in Selm noch einen „Kraftraum“ eröffnet, einen etwas esoterisch angehauchten Reflexionsbereich mit Meeresrauschen aus dem Lautsprecher und Birkenwald-Tapete. Hier sollen sich Beamten bewusst werden, was ihnen Energie gibt, diesen besonderen Job zu machen.

Bedienstete wie Tanja Weber etwa, die bei der Landratsbehörde Unna jeden Tag Tötungsdelikte, Kindesmissbrauch und andere Grausamkeiten bearbeitet. Es sei wichtig zu spüren, „dass ich nicht abgestumpft bin“, sagt sie. „Was ich gesehen habe, können Sie sich nicht vorstellen." Freundlich bleiben? Immer vorurteilsfrei? Einmal musste Tanja Weber an ihrem eigenen Geburtstag mit einem eineinhalb Jahre alten Kind in die Rechtsmedizin. Es hatte 17 Knochenbrüche.