Essen. Corona hat die Mobilität auf den Kopf gestellt. Wie sich die Krise auf den Verkehr der Zukunft auswirken könnte, dazu gibt es viele Ideen.

Die Corona-Krise hat das Mobilitätsverhalten vieler Menschen auf den Kopf gestellt. Ausgelöst durch den scharfen Lockdown blieben Flugzeuge am Boden, Autos in den Garagen, Busse und Bahnen leer. Deutschland stand wochenlang weitgehend still. Einen derartig tiefen Einschnitt ins Verkehrsgeschehen musste die Bundesrepublik selbst während des Ölpreisschocks in den 1970-er Jahren mit seinen Sonntagsfahrverboten und plötzlich möglichen Tempolimits nicht verkraften.

Kommt es zur Renaissance des Autos?

Doch weit mehr als zu Zeiten der Ölkrise vor bald 50 Jahren, nach deren Bewältigung der Verkehr im Land erst richtig ins Rollen kam, wirft die Pandemie diesmal grundsätzliche Fragen auf. Müssen wir in unserer Freizeit rund um den Globus reisen, um unseren Urlaub genießen zu können? Welchen Wert hat ein kondensstreifen-freier Himmel ohne Fluglärm, wenn dadurch Tausende Jobs bei Lufthansa und Co auf dem Spiel stehen? Bremst die Angst vor Infektionen in vollen Bussen, Zügen oder Straßenbahnen die Verkehrswende aus? Werden wir zu einem Volk der Fahrradfahrer wie die Niederländer? Oder kommt es zur Renaissance des Autos, weil es uns nicht nur trocken und warm hält, sondern nun auch noch vermeintlich virenfrei zum Ziel bringt?

Nahverkehr in der corona-bedingten Vertrauenskrise

Verkehrsexperten rätseln, wie und ob die Pandemie die Mobilität in Deutschland und darüber hinaus nachhaltig verändern kann. Belastbare Daten gibt es bislang nur wenige, Prognosen, Hoffnungen und Wünsche dafür umso mehr. Die Luftfahrtbranche etwa träumt von der Rückkehr zu alter Größe, allerdings erst im Jahr 2023. Immerhin: Sie träumt. Anderswo fällt der Schlaf unruhiger aus. Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin etwa erwarten eine deutliche Zunahme der Fahrten mit dem Auto, falls es dem öffentlichen Verkehr nicht gelingen sollte, aus der Corona-bedingten Vertrauenskrise herauszukommen. Viele Menschen meiden derzeit noch immer Busse und Bahnen, weil sie das Infektionsrisiko dort für besonders hoch halten.

Auch das Fahrrad gehört zu den Gewinnern

Auch andere Experten gehen davon aus, dass öffentliche Verkehrsmittel zumindest mittelfristig den Kürzeren ziehen werden. „Es ist eindeutig, dass die Coronapandemie unser Mobilitätsverhalten grundlegend verändert“, urteilte jüngst Barbara Lenz, die Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. In einer Umfrage hatte das DLR untersucht, wie sich Corona auf das Mobilitätsverhalten auswirkt. Vieles weist demnach darauf hin, dass das Auto und auch das Fahrrad als Gewinner aus der Krise hervorgehen. Öffentliche Verkehrsmittel müssten hingegen eine Durststrecke überbrücken und benötigten Unterstützung. Fast alle der Befragten der DLR-Studie gaben an, sich im Auto wohler oder genauso wohl zu fühlen wie vor der Krise. „Überraschenderweise vermissen besonders viele junge Städter in dieser Situation das eigene Fahrzeug“, so Lenz.

Viele wollen öfter mit dem Rad fahren oder zu Fuß gehen

Gestützt wird diese Erkenntnis durch eine Yougov-Umfrage in deutschen Städten, erstellt Anfang Juni, also bereits nach dem Ende des harten Lockdowns. 41 Prozent der Befragten gaben dort an, mehr als vorher mit dem eigenen oder einem gemieteten Pkw fahren zu wollen. Gut ein Viertel will öfter mit dem Rad fahren oder zu Fuß gehen. 35 Prozent haben den ÖPNV seit Beginn der Krise nicht mehr regelmäßig benutzt und wollen es auch künftig nicht mehr tun zu wollen.

Gerade noch Anker der Verkehrswende

In der Tat ist die Situation im ÖPNV seit Corona problematisch. Gerade noch als Anker der klimaschonenden Verkehrswende gefeiert, sehen sich Busse und Bahnen plötzlich mit dem Makel des hohen Infektionsrisikos behaftet. Wissenschaftliche Studien darüber, ob das zutrifft, gibt es freilich nicht. Doch die Abstimmung der Bürger mit den Füßen ist eindeutig. Laut den Forschern des Wissenschaftszentrums Berlin fiel der Anteil von Bussen und Bahnen am Gesamtverkehrsaufkommen während des Lockdowns deutschlandweit von zehn auf nur noch sechs Prozent.

70 Prozent weniger Fahrgäste in Bussen und Bahnen

Drastischer wirken die Zahlen, wenn man auf einzelne Regionen blickt. Um rund 80 Prozent sind bei der Bogestra (Bochum/Gelsenkirchen/Witten) die Fahrgastzahlen im ersten Quartal eingebrochen. In Dortmund waren in den ersten Wochen des Lockdowns bis zu 70 Prozent weniger Fahrgäste in Bussen und Bahnen unterwegs. Die meisten Betriebe haben ihr Angebot seit dem Ende der verschärften Corona-Maßnahmen am 27. April wieder hochgefahren.

Doch die Fahrgastzahlen bleiben weiter deutlich hinter dem Vor-Corona-Niveau zurück. Allein bei der Bogestra sollen bisher 5000 Kunden ihre Dauerkarten gekündigt haben. Die Verkehrsbetriebe in NRW haben bereits ein Notsignal Richtung Landesregierung abgesetzt. Sie fordern ein Milliarden-Hilfspaket als Kompensation für entgangene Einnahmen. Anders sei das Angebot nicht mehr aufrecht zu erhalten, müssten Fahrpläne eingedampft, Linien gestutzt werden.

Bürger werden wählerischer

Verkehrswende adé? Die Mobilitätsforscher vom Berliner Institut MiB sehen für den ÖPNV nicht ganz so schwarz. Aus ihrer Sicht bleibt der öffentliche Nahverkehr auch nach Corona das „Rückgrat der urbanen Mobilität“. Die Nachfrage könne aber selbst nach Ausklingen der Pandemie hinter dem Vorkrisenniveau zurückbleiben, weil Homeoffice und E-Learing sich etabliert hätten und der Pendlerverkehr dadurch sinke. In der Nutzung der Verkehrsmittel werde der Bürger zunehmend wählerischer. Darauf, so der Berliner Think Tank, müsse sich der ÖPNV einstellen, etwa durch eine einfachere und flexiblere Preisgestaltung. Tickets sollten möglichst digital angeboten werden und andere Verkehrsmittel wie Car- oder Bikesharing miteinbeziehen. Die MiB-Forscher glauben auch, dass klassische Monats- und Jahrestickets wegen des Risikos neuer Infektionswellen unattraktiver werden.

„Archipel von Stadtvierteln“

Auch die Stadtplaner sind gefragt. Das jedenfalls meint Stefano Boeri. „Jetzt ist die Zeit für eine neue Stadt“, sagte der italienische Star-Architekt, der am Neubau der vor zwei Jahren eingestürzten Autobahnbrücke in Genua beteiligt ist, jüngst dem „Handelsblatt“. Man müsse die Funktion der Städte neu überdenken. Boeri schwärmt von einem „Archipel von Stadtvierteln“. Große zentrale Stadtzentren seien in Zeiten von Abstandsgeboten überholt. Vororte und Schlafstätten für Pendler hätten ausgedient. Der Architekt, der mit seinen begrünten Hochhäusern international bekannt wurde, möchte Parkplätze zu Grünflächen machen und Bürgersteige verbreitern. Nur eines dürfe man nicht tun, rät Boeri: in alte Denkmuster zu verfallen.