Düsseldorf. Sind zehnmal so viele Menschen in Deutschland mit Corona infiziert wie gemeldet? Die umstrittene Heinsberg-Studie der Uni Bonn liegt nun vor.

Die Zahl der Corona-Infizierten in Deutschland könnte zehnmal so hoch sein wie offiziell registriert, die Sterberate in Folge des Virus damit weitaus geringer als bislang vermutet. Das ist das zentrale Ergebnis der sogenannten Heinsberg-Studie eines Forscherteams um den Bonner Virologen Professor Hendrik Streeck, die am Montag veröffentlicht wurde.

Wochenlang hatten die Wissenschaftler in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg fast 1000 Bewohner befragt, untersucht und Proben genommen. Heinsberg galt als früher Hotspot der Pandemie. Bei einer Karnevalssitzung in Gangelt war es zur massenhaften Ausbreitung des Erregers gekommen.

Viel Kritik an PR-Begleitung für die Heinsberg-Studie

Erste Zwischenergebnisse der Studie waren bereits im Beisein von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) in der Düsseldorfer Staatskanzlei veröffentlicht und von der PR-Firma „Storymachine“ in den sozialen Netzwerken verbreitet worden. Das Land hat die Forschung mit rund 65.000 Euro finanziert.

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Streeck, der mit Storymachine-Mitgründer Michael Mronz befreundet ist, geriet in den Verdacht der Auftragswissenschaft für politische Lockerungsbefürworter wie Laschet, die seit Wochen eine bessere Abwägung zwischen strengen Kontaktverboten und sozialen Folgekosten des Lockdowns fordern. Auch Virologen anderer Institute hatten Kritik an Streecks Vorgehen geäußert. Eine Publikation der Heinsberg-Studie ist nun aber auch in einem wissenschaftlichen Fachjournal geplant.

Die Sterblichkeit bei Corona-Infektion liegt nur bei 0,37 Prozent

Im Zentrum der Studie steht die Sterblichkeitsrate der Infektion. „Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, wird Studienleiter Streeck am Montag in einer Mitteilung der Universität Bonn zitiert.

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Die Dunkelziffer der Infizierten soll demnach in Gangelt rund 5-fach höher gewesen sein als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen. Streeck geht davon aus, dass man die Ergebnisse auch auf andere Gegenden in Deutschland übertragen kann. „Legt man für eine Hochrechnung etwa die Zahl von fast 6700 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten“, heißt es in der Mitteilung der Uni.

Das würde bedeuten: Die Dunkelziffer wäre bundesweit zehnmal höher als die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle von zurzeit etwa 162.000. Die Sterblichkeit der Infektion wäre gemessen an dieser Dunkelziffer weitaus geringer als bislang vermutet.

22 Prozent der Infizierten in Gangelt zeigen überhaupt keine Symptome

„Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher“, wird Co-Autor Professor Gunther Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn, zitiert.

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In Gangelt zeigten 22 Prozent aller Infizierten gar keine Symptome. Das untermauert, dass Abstandsregeln wichtig sind, weil Menschen die Krankheit weitertragen können, ohne sich selbst der Infektion bewusst zu sein. In den untersuchten Mehrpersonen-Haushalten soll das Risiko für die Ansteckung einer weiteren Person dagegen überraschend gering gewesen sein. „Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab“, so Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Es sei aufgefallen, dass sich Personen häufiger krank fühlten, die selbst an der Karnevalssitzung teilgenommen haben. „Um herauszufinden, ob hier die körperliche Nähe zu anderen Sitzungsteilnehmern und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben, planen wir weitere Untersuchungen in Kooperation mit Spezialisten für Hygiene“, kündigte Professor Hartmann an. Insgesamt wurden 919 Studienteilnehmer aus 405 Haushalten getestet.