Düsseldorf. Schulbesuch unter Hygieneauflagen, die Kosten der Herdenimmunität, auf den Spuren der Corona-Dunkelziffer: Forscher liefern erste Anhaltspunkte.
Die „Heinsberg-Studie“ des Forscherteams unter Leitung des Bonner Virologen Professor Hendrik Streeck wird europaweit beachtet. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat sie in Auftrag gegeben und mit Landesgeld bezahlt. Die Ergebnisse der Tiefenuntersuchung im hart vom Corona-Virus getroffenen Kreis Heinsberg sollen der Politik Anhaltspunkte geben, wie eine Rückkehr ins normale Leben aussehen könnte. Das sind die sechs wichtigsten Lehren:
1. Wir müssen die Dunkelziffer der Infizierten kennen
Das Forscherteam um den Virologen Professor Hendrik Streeck hat in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg über 400 Haushalte und gut 1000 Bürger untersucht, die repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung sind. Hintergrund: Im Karneval hatte sich auf der Gangelter „Kappensitzung“ das Corona-Virus explosionsartig verbreitet. Der Kreis Heinsberg war die früheste und am härtesten betroffene Region in Deutschland.
Der wichtigste Befund nach Auswertung der Hälfte aller Daten, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon mehr als aussagefähig sind: In Gangelt waren bereits rund 15 Prozent aller Bürger mit dem Corona-Virus infiziert. Viel mehr als offiziell registriert! Viele wussten davon gar nichts oder hatten nur leichte Symptome. Damit sinkt die Todesrate bezogen auf diese neue Gesamtzahl der Infizierten auf 0,37 Prozent. Zum Vergleich: Die von der Johns Hopkins University errechnete bundesweite Todesrate, die jeden Tag in allen Nachrichtensendungen zitiert wird, ist mit 1,98 Prozent fünfmal höher. Sie bezieht sich nämlich auf die Zahl der festgestellten Infizierten.
Die Lehre: Je besser man die Dunkelziffer der unbemerkt Infizierten ermitteln kann, desto realistischer wird die Voraussage für die Belastungen des Gesundheitssystems. Ministerpräsident Laschet: „Jede Nachrichtensendung beginnt damit, wie die Infektionszahl hochgegangen ist und dann illustriert man das mit einer Kurve. Eigentlich eine fast irrelevante Frage für das, was wir zu entscheiden haben.“
2. Eine Ausbildung von „Herdenimmunität“ ist zwingend
In der Gemeinde Gangelt haben bereits 15 Prozent der Corona-Infektion hinter sich und damit für sechs bis 18 Monate eine saisonale Immunität ausgebildet – das ist wie bei einem grippalen Infekt, den man jedes Jahr wieder bekommen kann. „Die 15 Prozent liegen nicht so weit weg von den 60 Prozent, die wir brauchen für das Erreichen einer Herdenimmunität“, erklärte der Forscher und Leibniz-Preisträger Professor Gunther Hartmann. Sprich: Wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung eine Corona-Infektion überstehen und immun sind, kann sich das Virus nicht mehr weiterverbreiten. Nun müsse errechnet werden, was es die Gesellschaft „an Geld und an Leid kosten würde, zu dieser Herdenimmunität zu kommen“, so Hartmann. Die Kunst: Es dürfen sich nicht zu viele Menschen gleichzeitig infizieren, und Hochbetagte oder Vorerkrankte müssen geschützt werden.
Das Warten auf einen Impfstoff bei Beibehaltung der aktuellen strengen Quarantäne-Maßnahmen wäre die einzige Alternative, doch die ist nicht realistisch. Das könnte noch Monate dauern, in denen Wirtschaft und Gesellschaft kollabieren dürften.
3. Hygiene ist der Schlüssel zur Normalisierung
Das Forscherteam von Professor Streeck geht davon aus, dass Hygiene nicht nur die Ansteckungsgefahr mindert, sondern auch den Schweregrad der Erkrankung. Wer mit der geballten Ladung an Viren in Kontakt kommt, kann schwerer erkranken als jemand, der nur einer begrenzen Virenzahl ausgesetzt ist. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Erreger einen Einfluss hat auf den Schweregrad der Erkrankung“, erklärte der Hygiene-Forscher Professor Martin Exner. Bestenfalls ist die Zahl der Viren so gering, dass eine Infektion stattfindet und eine Immunität ausgebildet wird, aber keine schwere Erkrankung erfolgt.
Das Virus könne zwar auch über einen langen Zeitraum auf Flächen überleben, man müsste allerdings eine ausreichende Zahl an Erregern mit der Hand von der Türklinke über Mund oder Augen direkt in die eigenen Schleimhäute befördern. Deshalb: Oft die Hände waschen! Gründliches Waschen der Hände mit Seife löse die Viren gut ab und könne sie „inaktivieren“, so die Experten. Auf engem Raum etwa in Bus und Bahn kann auch ein Mundschutz den Mitmenschen vor den eigenen Partikeln schützen. Die höchste Virenkonzentration befindet sich im Mund-Rachenraum. Die Gesellschaft müsse lernen, dauerhaft mit dem Corona-Virus zu lernen, empfahl Professor Streeck.
4. „Phase zwei“ kann beginnen
Die von der Politik verhängten Kontaktverbote und der Stillstand des öffentlichen Lebens waren als „Phase eins“ nach Einschätzung der Forscher die richtige politische Reaktion. So wurde Zeit gewonnen, das neuartige Virus kennenzulernen und die Krankenhäuser auf die Behandlung von schwer erkrankten Menschen vorzubereiten. Die Kurve der Neuinfektionen flachte ab, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Ansteckungsgefahren ist gewachsen, Hygiene- und Abstandsregeln wurden von weiten Teilen der Bevölkerung verinnerlicht. Nun könne „Phase zwei“ beginnen, erklärte Professor Exner: Unter strengen Bedingungen Maßnahmen der strengen Quarantäne kontrolliert zurückzunehmen. In Deutschland gebe es bislang „eine hohe Disziplin“. Jetzt gehe darum, die aktuellen Abstandsregeln etwa aus Supermärkten auf andere Lebensbereich auszuweiten.
5. Schule und Kita unter Auflagen beginnen, Alte und Kranke schützen
Schulen und Kindertagesstätten könnten nach Einschätzung der Forscher den Betrieb wieder aufnehmen, wenn strenge Auflagen wie bestimmte Hygienemaßnahmen eingehalten werden, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Kinder, Jugendliche und gesunde Menschen verkrafteten das Virus nach derzeitiger Erkenntnislage in den allermeisten Fällen gut. „Die junge, gesunde Population ist durchaus in der Lage, die natürliche Immunität aufzubauen, die wir derzeit nicht durch eine Impfung erreichen können“, erklärte Exner.
Bei Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen sei es dagegen weiter notwendig, dass sie weiter geschützt werden. „In den Altenpflegeheimen und Krankenhäusern werden wir weiterhin eine restriktive Politik sicher aufrechterhalten müssen“, sagte Exner. Kinder, die wieder Schule und Kita besuchen, müssen wohl noch „eine längere Phase der Abstinenz zu den besonderen Bevölkerungsgruppen aufrechterhalten“. Sprich: Der Besuch bei Oma und Opa könnte noch monatelang unmöglich sein.
6. Was Laschet mit den Studien-Ergebnissen anfängt
„Die Wissenschaftler sagen uns nicht: Macht es so oder so, sondern sie geben uns einen weiteren Baustein an die Hand“, reagierte Laschet auf die Zwischenergebnisse der Studie. „Mich überzeugt das Argument, dass die Deutschen in den letzten Wochen gelernt haben, worauf es ankommt und die Kontaktverbote und die Distanz und den Abstand und die Hygieneregeln einhalten“, erklärte der Ministerpräsident. Er wird am 15. April mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten der anderen Bundesländer über die konkrete Lockerung der Kontaktverbote beraten.
Laschet hat sich für regionale Lösungen ausgesprochen, will aber beim Wiederanfahren des Schulbetriebs eine bundesweit einheitliche Vorgehensweise. Beim Handel skizzierte Laschet bereits seine Vorstellungen: „Der Supermarkt hält heute Hygienevorschriften ein. Man kann sich natürlich gleichermaßen vorstellen, dass ein Autohaus auch Hygienebedingungen einhält oder ein kleiner Laden, wo sich immer mal ein oder zwei Leute aufhalten.“
Die Autoindustrie als deutsche Schlüsselindustrie soll dem Vernehmen nach besonders schnell wieder auf die Beine kommen. Auf ein liebgewonnenes Hobby müssen die Deutschen dagegen wohl noch lange verzichten: die Fußball-Bundesliga. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in dieser Saison nochmal volle Stadien haben werden. Dass Geisterspiele denkbar sind, ist etwas, was die Liga im Moment mit den Ländern erörtert“, sagte Laschet.
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