Essen. Mit Betreuung während der Ferien sollen Schüler versäumten Unterrichtsstoff nachholen. NRW-Schulministerium erteilt diesem Vorstoß eine Absage.

Wegen der wochenlangen Schulschließungen wird der Ruf nach einer Verkürzung der Sommerferien für die Schüler in NRW immer lauter. Die Bochumer Entwicklungspsychologin Prof. Birgit Leyendecker vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen der Bundesregierung regt an, die Sommerferien zu nutzen, um Lerndefizite von Schülerinnen und Schülern aufzuholen. Dazu könnten die Ferien in diesem Sommer einmalig verkürzt und die Herbstferien dafür verlängert werden, sagte sie dieser Redaktion.

„Kinder bestimmter Altersstufen werden vielleicht erst wieder im August in die Schule zurückkehren“, so Leyendecker. „Dann sind seit Beginn der Coronakrise fünf Monate vergangen.“ Vor allem Kinder in schwierigen Verhältnissen würden diese Zeit nicht ohne Lerndefizite überstehen können. Die Wissenschaftlerin schlägt gemeinsam mit weiteren Experten des Beirats vor, rechtzeitig über eine „Neugestaltung der Sommerferien“ nachzudenken. Die üblichen sechswöchigen Ferien könnten verkürzt werden, um mithilfe von Unterstützungsangeboten Lernlücken aufzuholen.

Schäuble: Gelegenheit, den Unterrichtsstoff nachzuholen

Wegen der Corona-Pandemie sind die Schulen seit Wochen geschlossen. Ab Anfang Mai sollen sie schrittweise wieder öffnen, zunächst aber nur für bestimmte Klassen und für Schüler vor einem Abschluss. Die regulären Sommerferien beginnen in NRW am 29. Juni und enden am 11. August.

Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) brachte in einem Zeitungsinterview eine Verkürzung der Sommerferien ins Spiel. Dies biete Gelegenheit, versäumten Unterrichtsstoff nachzuholen“, sagte Schäuble der Augsburger Allgemeinen.

Kritik von Gewerkschaften und Verbänden

Der Vorstoß stößt indes auf die Kritik von Gewerkschaften und Verbänden. Eine Verkürzung der Ferien bringe nur neue Unruhe in die Schulen und löse nicht das eigentliche Problem der Bildungsungerechtigkeit unseres Schulsystems, sagte Stefan Behlau, Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Erst wenn klar sei, wie ein schulisches Leben mit dem Virus gelingen könne, „kann auch über Angebote in den Sommerferien nachgedacht werden“, sagte Behlau.

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Von Matthias Korfmann, Christopher Onkelbach, Jan Jessen

Ähnlich argumentierte Maike Finnern, Vorsitzender Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. Eine Verkürzung der Sommerferien lehnt sie ab. Es sei unrealistisch, den Stoff von fünf Monaten in wenigen Wochen nachzuholen. „Die Corona-Pandemie verschärft die Unterschiede der Bildungschancen“, so Finnern. „Wir müssen langfristiger denken und mehr tun, um die Bildungschancen aller Kinder zu verbessern.“

NRW-Schulministerium lehnt den Vorschlag ab

Eine klare Absage kam auch von der NRW-Landesregierung: „Das Schulministerium erwägt nicht, die Sommerferien wegen des derzeit ruhenden Schulbetriebs zu verkürzen“, stellte Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) klar. „In NRW gibt es ein ordentliches Abitur und termingerechte Ferien. Das ist die Rückkehr zur verantwortungsvollen Normalität“, so Gebauer.

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Viele Lehrer sind in großer Sorge, dass die Schulschließungen vor allem für Kinder in schwierigen Verhältnissen dramatische Folgen haben werden. Die Pädagogen befürchten nicht nur wachsende Rückstände und Nachteile bei den Leistungen, sondern auch Vernachlässigung und häusliche Gewalt.

Coronakrise verschärft soziale Unterschiede

Die Schulschließungen würden „soziale Unterschiede weiter verschärfen und die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen ungleich schwächen“, mahnte Prof. Birgit Leyendecker, Leiterin der Arbeitsgruppe Familienforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Sie schlägt daher gemeinsam mit dem Wissenschaftlichen Beirat für Familienangelegenheiten der Bundesregierung vor, die Sommerferien zu verkürzen.

Lehramtsstudenten sollen Betreuung übernehmen

Die Wissenschaftlerin fordert die Verantwortlichen dazu auf, sich möglichst rasch Gedanken darüber zu machen, wie man die Ferien dazu nutzen könne, um Familien zu entlasten und Schüler zu fördern. „Genauso wie Medizinstudenten derzeit die Kliniken unterstützen, sollen zum Beispiel Lehramtsstudenten in diesem Sommer die Bildung unserer Kinder unterstützen“, sagte die Entwicklungspsychologin dieser Redaktion. Das funktioniere aber nur, wenn sich die Hochschulen jetzt mit entsprechenden Konzepten darauf vorbereiten könnten.

Grundschulverband begrüßt die Idee des Beirats

Christiane Mika findet diesen Vorschlag „ganz hervorragend“. Die Vorsitzende des Grundschulverbands NRW und Leiterin der Libellen-Grundschule im Dortmunder Norden würde es begrüßen, wenn Studierende in den Ferien Schüler betreuen und dafür Leistungsnachweise für ihr Studium erwerben könnten. Das Lehrerkollegium könne diese Aufgabe nicht noch zusätzlich übernehmen. Allerdings müssten dafür zunächst die hygienischen Voraussetzungen geschaffen werden. Wichtig ist ihr, dass sich die Förderung nicht auf den Bereich Deutsch und Mathematik beschränkt. Dafür die Ferien zu verkürzen, sei nicht falsch. „Die Kinder benötigen nicht unbedingt sechs Wochen Urlaub“, sagte die Pädagogin.

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„Ich besuche häufig Schulen in benachteiligten Stadtteilen“, berichtet Leyendecker. Besonders für diese Kinder sei eine gute Betreuung auch in den Ferien wichtig. „Diesen Schülern fehlt häufig die Unterstützung zu Hause, sie verfügen nicht über die nötigen technischen Geräte und würden wieder eine Tagesstruktur bekommen. Sie gehen gerne zur Schule und würden sicher kommen“, glaubt Leyendecker.

Entlastung für die Eltern

Doch nicht nur für benachteiligte Kinder wäre ein Ferienangebot wichtig, meint Leyendecker. „Viele Eltern sind derzeit mit der Betreuung ihrer Kinder und dem Heimunterricht überfordert. Auch für sie wäre es eine Entlastung.“ Sie empfiehlt daher bis in den Herbst hinein ein „breit angelegtes Bildungs- und Betreuungsangebot von guter Qualität“.

Das NRW-Schulministerium lehnt diesen Vorstoß ab und verweist auf rechtliche und organisatorische Probleme. „Eine Änderung der bestehenden Regelung zu den Sommerferien müsste von den Ländern und der Kultusministerkonferenz vereinbart werden“, betonte Ministerin Yvonne Gebauer (FDP).

Grüne fordern digitale Offensive und Geräte für alle

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Die Debatte um verkürzte Sommerferien halten die Grünen in NRW für verfrüht. Um die soziale Benachteiligung auszugleichen seien vielmehr eine „digitale Offensive für die Schulen“, kluge pädagogische Konzepte sowie geeignete Geräte für alle Schüler notwendig, sagte Felix Banaszak, Vorsitzender der Grünen in NRW. Die Schulen seien derzeit sehr unterschiedlich mit entsprechender Technik ausgestattet. Dazu gebe es aber bisher von Seiten des Schulministeriums keine geeigneten Initiativen, sagte Banaszak dieser Redaktion. „Statt dessen ist die Ministerin auf die Abiturprüfungen fixiert.“