Essen/Dortmund. Streit um Notgruppen für schutzbedürftige Kinder. Experten mahnen: Der Bildungsrückstand wird sich durch die Corona-Krise weiter vergrößern

Vor allem Schüler in sozial schwierigen Verhältnissen leiden unter den derzeitigen Schulschließungen wegen der Corona-Pandemie. Verbände, Lehrkräfte und Eltern befürchten nicht nur wachsende Rückstände und Nachteile bei den Leistungen sondern auch Vernachlässigung und häusliche Gewalt. „Wir machen uns große Sorgen. Die Schulschließungen verstärken bestehende Notlagen“, warnt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).

Manche Leiter von Schulen in sozial schwierigen Vierteln befürchten „verheerende soziale Folgen für die Kinder“. Ihnen fehle zu Hause die Tagesstruktur, regelmäßige Mahlzeiten, die Anleitung und die Hilfe, sagt Christiane Mika, Vorsitzende des Grundschulverbands NRW und Leiterin der Libellen-Grundschule in Dortmund.

Ruf nach einer Notbetreuung

„Wir brauchen jetzt auch eine Notbetreuung für Kinder aus schwierigen Familien“, schlägt die Schulleiterin vor. Familienminister Joachim Stamp (FDP) hatte dieser Idee jüngst eine Absage erteilt: „Wir können derzeit die Notbetreuung nicht öffnen für vernachlässigte Kinder.“ Josefine Paul, familienpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, meint hingegen: Für viele Kinder und Jugendliche sei es zur „Abwendung einer drohenden Kindeswohlgefährdung wichtig, dass sie auch weiterhin außerhalb der Familie betreut werden“. Die Landesregierung müsse dies gewährleisten.

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Durch die Schulschließungen wachse die ohnehin große soziale Kluft in den Städten des Ruhrgebiets bei den schulischen Leistungen weiter, mahnen Experten. „Die soziale Ungleichheit wird jetzt eklatant deutlich“, sagt Mika. In vielen Haushalten seien keine Computer oder Drucker vorhanden, mit denen die Kinder ihre Lernaufgaben erledigen können. Briefe kämen zurück oder würden nicht beantwortet.

Eltern: Es darf nicht zu größeren sozialen Verwerfungen kommen

„Alle Lehrkräfte wissen, dass es Kinder gibt, bei denen man jeden Tag wieder froh ist, dass sie in der Schule einen festen Rhythmus, eine fürsorgliche Bezugsperson und ein Mittagessen erhalten“, sagt Beckmann. Die Politik dürfe in dieser Zeit nicht die Kinder aus dem Blick verlieren, „denen die momentane Situation schwer zu schaffen macht“, so der VBE-Vorsitzende.

Auch die Landeselternkonferenz NRW (LEK), der Dachverband der Stadt- und Schulpflegschaften, sorgt sich um diese Kinder und Jugendlichen. „Es darf nicht zu noch größeren sozialen Verwerfungen kommen“, sagt LEK-Vorsitzende Anke Staar. Mit Blick auf die anstehenden Abschlussprüfungen sagt sie: „Lernen und Vorbereitung erfolgt nun unter nicht vergleichbaren Bedingungen.“ Daraus dürfe Schülern aus schwierigen Haushalten aber kein Nachteil entstehen. Die große Herausforderung sei es jetzt, soziale Benachteiligung zu verhindern und Chancengleichheit zu gewährleisten. Udo Beckmann: „Kinder in Not brauchen jetzt eine besondere Unterstützung. Wir müssen die Politik zum Handeln bringen.“

Kinder freuen sich über Notbetreuung in der Schule

„Hier war es noch nie so ruhig. Ich komme jetzt endlich mal dazu, Dinge aufzuarbeiten, die liegengeblieben sind“, sagt Christiane Mika. Prompt fliegt die Tür auf. Fünf Kinder stürmen mit Kuchen herein und begrüßen ihre Lehrerin. „Das sind meine Notbetreuungskinder“, lächelt Mika. „Die freuen sich, dass sie hier sein dürfen.“ Was ihr aber große Sorgen macht, sind die Schüler, die wegen der Schulschließungen unter schwierigsten Bedingungen zu Hause bleiben müssen.

„Ich kann mir leider gut vorstellen, was jetzt in diesen Familien passiert. Die meisten Kinder werden wohl unendlich lange vor dem Fernseher oder der Playstation hocken und zocken.“ Zum Teil werden auch die regelmäßigen Mahlzeiten in der Schule fehlen. Smartphones sind vorhanden, aber eben nicht Computer oder Drucker. „E-Learning, also digitales Lernen – das ist kaum umzusetzen. Wir haben viele Familien, die nicht mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind, an denen Kinder arbeiten und lernen können, die daher auch nicht auf Mails antworten.“ Die Kinder erlebten jetzt die große Langeweile, zudem gebe es mehr Anlässe für Streit, da in manchen Familien neben allem anderen Stress nun auch das Einkommen wegbreche.

Manche Eltern holen die Lernpäckchen nicht ab

360 Lernpäckchen haben die Lehrer verschickt, für jedes Kind der Libellen-Grundschule eines. Die nicht abgeholt wurden, werden per Post verschickt. Manche kämen aber nicht an, nicht einmal per Post – weil die Namen auf den Briefkästen fehlten. Die engagierte Schulleiterin kennt die Verhältnisse, in denen ihre Schüler leben. Manche haben drei, vier, fünf Geschwister, leben in einer kleinen Wohnung, von einem eigenen Schreibtisch oder gar Zimmer sei keine Rede.

Die Lehrerin weiß aus Erfahrung: „Wir erwarten gar nicht, dass alle Kinder den bisherigen Schulstoff durch Aufgaben festigen können. Die meisten benötigen sehr enge Begleitung und ständige Rückmeldung. Das können die Eltern in der Regel nicht leisten.“ Man könne nicht erwarten, dass die Eltern ihren Kindern eine Tagesstruktur geben können, sie zum Lernen anleiten, den Kindern helfen. Ist das Gleichgültigkeit? Sie überlegt und sagt: „Nein, aber ich erlebe bei den Eltern sehr viel Hilfslosigkeit.“ Die liebevollen Tipps für das Lernen zu Hause, die die Lehrer auf der Homepage der Schule zusammengetragen haben, würden kaum beachtet.

Schulleiter: Ich habe Angst um meine Schüler

Von Gleichgültigkeit der Eltern spricht hingegen Norbert Rempe-Thiemann, der eine Hauptschule in Dortmund leitet. „Was wir gerade erleben, wird doch ein längerer Zeitraum sein. Und wenn man das weiterdenkt, dann habe ich Angst um meine Schüler“, sagte der Pädagoge den Ruhr-Nachrichten. Seiner Schüler lebten teils in „sozial desaströsen Verhältnissen“ in die derzeit niemand hineinschauen könne. Eine Notbetreuung für solche Kinder und Jugendliche außerhalb der Familie – mancher Lehrer hätte dafür trotz des Corona-Risikos Verständnis.

Auch das Kollegium von Christiane Mika versucht, den Kontakt zu ihren Schülern nicht zu verlieren -- was zuweilen schon daran scheitert, dass manche Eltern ständig wechselnde Telefonnummern haben. „Wir rufen jede Familie einmal in der Woche an und fragen, wie es geht und wie die Kinder vorankommen.“ Damit wollen die Lehrer den Schülern das Signal geben: Wir sind weiter für euch da. Auch die Schulsozialarbeiter stehen bereit, doch ihre Arbeit beruht auf Kontakt und Gespräch. Das geht im Homeoffice schlechter. Die Schulleitung stehe auch in Kontakt mit dem Jugendamt.

Gewerkschaft spricht von rund 1000 Schulen in sozialen Brennpunkten

360 Kinder besuchen die Libellen-Grundschule, einen blau-grün bemalten Zweckbau im Norden der Stadt. 95 Prozent der Mädchen und Jungen haben eine Zuwanderungsgeschichte. In jeder Klasse sitzen drei bis fünf Kinder, die noch kein Deutsch sprechen. Etwa 290 der Familien beziehen Sozialhilfe.

Die Libellen-Grundschule ist kein Einzelfall. Laut Bildungsgewerkschaft GEW gibt es NRW gut 1000 Schulen, die in sozialen Brennpunkten liegen. „Die augenblickliche Situation zeigt uns nochmal deutlich, wo schon lange Schwächen im System liegen“, sagt Anke Staar, Vorsitzende der Landeselternkonferenz. Immer noch werde zu wenig getan für Schulen in schwierigen Lagen. Man könne nicht von Digitaloffensive oder E-Learning reden, wenn nicht jeder Schüler über Internet und Computer verfüge. Die Schulen müssten Leihgeräte ausgeben dürfen.

Häusliche Gewalt steigt meist in Krisenzeiten

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) liefert zu den Schwächen die Fakten: Von bundesweit 8,3 Millionen Schülern sind 2,4 Millionen von Armut bedroht, 1,5 Millionen erhalten Sozialleistungen. Über eine halbe Million Kinder haben sonderpädagogischen Förderbedarf. Eltern könnten hier schnell an ihre Grenzen kommen, mahnt VBE-Chef Udo Beckmann. Dass die aktuelle Situation viele Familien überfordern könne, befürchtet auch er. „Schon im normalen Leben erleiden viele Kinder Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld“, sagt Beckmann. Jetzt sei davon auszugehen, dass die Zahl der betroffenen Kinder zunehmen werde. Er appelliert an die Wachsamkeit der Jugendämter.

„Liebe Kinder“, schrieb Christiane Mika auf die Internetseite ihrer Grundschule. „Ich bin in der Schule und es ist sehr still. Ihr fehlt! Ich möchte so gerne wissen wie es euch geht. Bitte schreibt mir doch eine Mail.“ Fünf Antworten bekam sie bisher.