Bochum/Mülheim. Kliniken im Revier bereiten sich in der Coronakrise auch auf ethische Fragen und Triage vor. Wer wird zuerst beatmet, wenn Ressourcen knapp sind?
Ein schweres Zugunglück, kilometerweit von der nächsten Klinik entfernt. Die Verletzungen der Insassen sind schwer, viele kämpfen um ihr Leben. Ein Notarzt erreicht den Unglücksort, aber kann sich nicht um alle Fahrgäste gleichzeitig kümmern. Es geht um schnelle Entscheidungen.
„In so einer Situation wird die Triage relevant, also die Frage, welcher Patient im Katastrophenfall zuerst behandelt werden soll“, erläutert Medizinethiker Prof. Jochen Vollmann. Eine Frage, die gestellt werden müsse, wenn Ressourcen knapp werden – so wie nun in italienischen und französischen Kliniken. Im Elsass werden Corona-Patienten über 80 Jahre nicht mehr beatmet, auch in Italien haben ältere Menschen bei der Triage das Nachsehen. Und im Ruhrgebiet?
Es zählen medizinische Kriterien
„Wir haben bisher immer das Ziel verfolgt, jeden Patienten hochindividuell zu behandeln“, sagt Prof. Christoph Hanefeld, Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum (KKB). Durch mögliche Ressourcenknappheit begründete Triage-Szenarien zu diskutieren sei da für viele Mitarbeiter „eine neue Situation“. Für Hanefeld ist deshalb klar: „Das ist ein Thema, auf das wir uns genauso vorbereiten müssen wie auf die Auslastung der Intensivbetten.“
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Das KKB habe deswegen bereits vor drei Wochen angefangen, Hilfestellungen für das medizinische Personal zu entwickeln. Zugrunde gelegt wurden dabei laut Hanefeld unter anderem die Ende März veröffentlichten Handlungsempfehlungen des Deutschen Ethikrats und von sieben Fachgesellschaften der Notfall- und Intensivmedizin. Beide Papiere sind sich einig: Es dürfen nur medizinische Kriterien zählen. „Es geht dabei um Fragen wie: Hat der Patient eine Vorerkrankung? Wie sind seine Überlebenschancen? Wie spricht er auf die bisherige Therapie an?“, erklärt der Bochumer Ethiker Vollmann, der an den Empfehlungen der Intensivmediziner mitgeschrieben hat.
Es gibt nicht nur Corona-Patienten
„Die alleinige Frage nach dem Alter darf keine Rolle spielen “, sagt auch Pfarrer Bertold Bittger, Vorsitzender des Ethik-Komitees des Katholischen Klinikums Bochum. Bereits in der Notaufnahme müsse geklärt werden, wie die Erfolgsaussichten einer intensivpflichtigen Behandlung bei einem Patienten sind – und ob er im Extremfall überhaupt eine Beatmung möchte, oder auch eine etwaige Patientenverfügung hat. Laut Bittger ein ambivalentes Thema.
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„Durch die schrecklichen Bilder aus Italien trifft manch einer vielleicht auch zu früh die Entscheidung: Dieses Szenario möchte ich mir ersparen, ich möchte nicht beatmet werden.“, so der Pfarrer. „Das kann aber auch bedeuten, dass eine Chance, ein Leben zu retten, verloren geht.“
Dabei geht es nicht nur um die Leben von Menschen, die an Covid-19 erkrankt ist. „Die normalen Notfallpatienten kommen ja weiter“, betont KKB-Geschäftsführer Hanefeld. Für den Extremfall müsse sich also nicht nur auf die Triage bei Corona eingestellt werden, sondern auch bei schweren Schlaganfällen oder Herzinfarkten.
Mehr Seelsorger im Einsatz
„Das sind natürlich sehr belastende Themen“, so Hanefeld. Deshalb habe das KKB zusätzlich auch mehr psychosoziale Gesprächsangebote für Mitarbeiter aufgebaut. Außerdem wolle man sicher gehen, dass die Triage keine Einzelentscheidung eines Arztes sein wird. „Es ist eine Entscheidung, die im Team getroffen werden muss.“
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Vorbereitet hat man sich auch bei den Evangelischen Krankenhäusern Mülheim und Oberhausen. Beispielsweise seien Unterstützungsangebote in der Seelsorge aufgestockt worden, sagt Nils Krog, Chef der Ategris-Gruppe, die beide Kliniken betreibt. „Vorbereitung heißt allerdings nicht, dass man ethischen Entscheidungen vorwegnehmen kann. Die Entscheidung muss immer im Moment getroffen werden“, so der Diplom-Theologe.
Krog betrachtet die Triage weniger als neue Situation. Für ihn ist sie vielmehr Krankenhaus-Alltag. „Die Frage, wer sofort behandelt werden muss und wer noch warten kann, wird täglich in den Notfallambulanzen getroffen.“ Auch die Frage, wie man beispielsweise mit einer Reanimation im Falle einer eingrenzenden Patientenverfügung umgehen soll, sei schwierig, aber sicher nicht Pandemie-spezifisch.
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Bei all diesen Entscheidungen sei es in Deutschland bislang die Norm, dass Kriterien wie das Alter, die Nationalität, eine Behinderung oder der Versicherungsstatus keine Rolle spielen. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass auch die Corona-Pandemie in Deutschland nichts an dem Entscheidungsprozess ändern wird“, so Krog. „Was das angeht, wird es bei uns keine italienischen Verhältnisse geben.“